Zusammenarbeit zwischen Pädaudiologen und Hörakustikern
Autor: Manfred Drach, Sonderschul-Konrektor an der Johannes-Vatter-Schule für Hörgeschädigte in Friedberg referierte zu diesem Thema bei den Landestagungen der UHA 1998.
Hörlern-Voraussetzungen früher und heute
Wie waren damals die Bedingungen für hörgeschädigte Kinder, Hören zu lernen? Sie waren rundweg schlecht. Schlecht in vielerlei Hinsicht. Ich möchte drei Aspekte herausgreifen:
- Die Hörgeräte-Technik war zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage, den Kindern eine gute Hör-Ausgangsbasis zu bieten.
- Die medizinischen Möglichkeiten bezüglich einer sicheren und vor allem frühen Diagnostik waren begrenzt.
- Die Frühförderung (FF) als Organisationsstruktur existierte bis auf wenige Ausnahmen nicht oder nur in Ansätzen.
Wie sind die Bedingungen für hörgeschädigte Kinder, Hören zu lernen, heute? Sie sind ausgesprochen gut. Was hat sich verändert? Auch hierzu einige wichtige Aspekte:
- Die HG-Technik hat sich in Riesenschritten weiterentwickelt. Fast revolutionär zu nennende Fortschritte der HG-Technologie ermöglichen selbst hochgradig hörgeschädigten Kindern, die Sprache ihrer Umgebung über das Ohr wahrzunehmen. Damit einhergehend hat sich die Anpass-Philosophie verändert. Lag früher der Verstärkungs-Schwerpunkt im Tieftonbereich, so geht man heute von einer Betonung des hochfrequenten Bereiches aus. Ein Verringern des Maskierungs-Effektes sowie die Hervorhebung der für die Sprach-Diskrimination wichtigsten Frequenzanteile steht dabei im Mittelpunkt.
- Die medizinische Diagnostik ist erheblich differenzierter und sicherer geworden (Stichworte: OAE, Notched-Noise-BERA). Der Diagnose-Zeitpunkt liegt deutlich früher, wenngleich noch immer nicht zufriedenstellend.
- Wissenschaftliche Erkenntnisse über Reifungsprozesse der Hörbahn in den ersten Lebensjahren begründen einen frühestmöglichen Förderbeginn bei hörgeschädigten Kindern, wenn möglich schon im 1. Lebensjahr. Ein hörgeschädigtes Kind ist in der Lage, Hören zu lernen, wenn es nach frühzeitiger Erfassung umgehend mit HG versorgt wird. Die HG-Einstellung muss dabei so gestaltet sein, dass das Kind ein Höchstmass an Sprache wahrnehmen kann. Selbst wenn diese Sprachperzeption nur bruchstückhaft ist gelingt es dem in den ersten Lebensjahren sehr plastischen ZNS (Zentral-Nervensystem), eine ganzheitliche Sprachentwicklung zu ermöglichen.
Das FF-Konzept an der Schule für Hörgeschädigte in Friedberg
Die Bedeutung vorschulischer Entwicklungsprozesse wurde immer klarer. Vor diesem Hintergrund hat sich FF inhaltlich und organisatorisch entwickelt.
Als Beispiel möchte ich das FF-Konzept an unserer Friedberger Einrichtung kurz vorstellen: Aus organisatorischer Sicht können die Eltern hörgeschädigter Kinder von 0 bis 6 Jahren zwei FF-Angebote wahrnehmen:
– ambulante FF-Massnahmen (Haus-Frühförderung)
– stationäre Wechselgruppe
Mit Hilfe der genannten FF-Angebote verfolgen wir ein hörgerichtetes, am Lautsprach-Erwerb ausgerichtetes und familienorientiertes Konzept, das die Integration des hörgeschädigten Kindes in die es umgebende hörende Gemeinschaft ermöglicht. Dabei streben wir die Umsetzung folgender Grobziele an:
• Optimale hörtechnische Versorgung
Die Einstellung der HG richtet sich selbstverständlich nach dem jeweils vorliegenden Hörverlust. Sie sollte jedoch nach unseren Erfahrungen folgende Eckpunkte beinhalten:
- wirkungsvolle Tiefenabsenkung
- generell ausreichende Verstärkung, insbesondere in den höheren Frequenzen
- Übertragung des 3.3 kHz-Peaks zum Ausgleich der Gehörgangs-Resonanz
- Parallelisierung der Verstärkungskurven bei 60 und 90 dB
- keine generelle Grenzrichung bei 125 dB (Einstellung in Abhängigkeit von Hörverlust und medizinischer Beurteilung, z.B. Recruitment).
- Kinderwinkel mit eventuellem Filtereinsatz zur Beschneidung möglicher Resonanzspitzen
- Batteriesicherung
- Audioeingang
- Poti-Abdeckung
Zur Optimierung der HG-Anpassung sind regelmäßige audiometrische Überprüfungen, In situ-Messungen sowie Hörfeld-Skalierungen unerlässlich.
Zur Absicherung der Funktionstüchtigkeit der HG werden sowohl die Eltern als auch die Mitarbeiter:innen unserer Einrichtung in die Kontrolle und Wartung von HG eingewiesen.
Wenn alle Möglichkeiten der HG-Versorgung ausgereizt sind und dennoch keine adäquate Hörerfahrung für das Kind realisierbar ist empfehlen wir die Versorgung mit einem Cochlear Implant an.
- Hörentwicklung natürliche Sprachentwicklung
- positive Beziehungsstruktur zwischen Eltern und Kind
- positive Sozialentwicklung
- Förderung der Gesamtentwicklung
Für jedes Kind wird ein individuelles Förderkonzept (mit entsprechenden Feinzielen) erstellt, das in regelmäßigen Abständen aktualisiert wird. Um diese Zielvorstellungen aber verwirklichen zu können bedarf es eines zentralen Faktors: der Interdiziplinarität. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit fusst auf einem regelmäßigen Austausch mit Fachkräften wie Medizinern, Therapeuten, pädagogischen Mitarbeitern aus anderen Frühförderstellen, Erzieherinnen in Regelkindergärten, Erziehungs-Beratungsstellen etc. und schließlich mit Hörgeräte-Akustikern.
Exemplarisch möchte ich im Folgenden die interdisziplinäre Kooperation zwischen Hörgeräte-Akustikern und Pädagogen näher beleuchten. Diese Zusammenarbeit stellt nach meinem Dafürhalten ein zentrales Element einer auf Hörentwicklung ausgerichteten FF dar. Nur auf der Basis einer optimalen ausgerichteten Versorgung ist ein hörgeschädigte Kind in der Lage, Hören zu lernen.
Kompetenzschwerpunkte von Hörakustikern und Pädagogen
Im folgenden sollen nicht die Kompetenzen beider Berufsgruppen im Detail dargestellt sondern schwerpunkt-mäßig in Bezug auf die Hörgeräteversorgung von Kindern betrachtet werden. Die Vorteile des Hörgeräte-Akustikers liegen berufsgruppen-spezifisch im technischen Bereich. Dies gewinnt in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung vor dem Hintergrund enormer Veränderungen auf dem hörtechnischen Markt. Wer sich nicht täglich und ausschließlich in diesem Sachbereich bewegt wird Schwierigkeiten haben, ihn zu überblicken, geschweige denn zu beherrschen. Von der Auswahl der Hörgeräte bis hin zur individuellen Feinanpassung ist ein Know-how gefragt, das weder Mediziner noch Pädagogen in ausreichendem Maße zur Verfügung haben können. Eine dazu notwendige technische Grundausstattung ist in den Kliniken bzw. bei niedergelassenen HNO-Ärzten, aber auch in den Schulen für Hörgeschädigte, nicht immer vorhanden. Routinemässige Durchführung von InSitu-Messungen sowie die Feinabstimmung der individuellen Hörgeräte auf Höranlagen ist bei den Hörakustikern in der Regel in den besseren Händen. Die Vorteile der Pädagogen liegen darin, dass sie das hörgeschädigte Kind, seine Reaktions-Möglichkeiten und seine individuelle Entwicklungs-Situation sicherer einschätzen können. Dies ermöglicht ihnen, die für die Optimierung der HG-Anpassung dringend benötigten audiometrischen Daten kompetent und sicher zu erheben. Durch die regelmässigen Fördermaßnahmen baut sich ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Kind und dem Pädagogen auf, das die Grundlage für eine zuverlässige Mitarbeit und Interaktion im Rahmen der Hördiagnostik darstellt. Das Hervorlocken kindlicher Motivation und Konzentration trägt entscheidend zu einer sicheren Datengewinnung bei. Auch die Auswahl der audiometrischen Verfahren gemäß dem kindlichen Entwicklungsstand sowie die Interpretation der Messergebnisse vor diesem Hintergrund liegt im pädagogischen Kompetenzbereich. Hördiagnostik bei Kindern mit Mehrfachbehinderungen bzw. Zusatzstörungen oder Kinder mit zentral-auditiven Wahrnehmungs-Störungen sowie die entsprechende Beratung der Eltern bzw. Bezugspersonen sollten unserer Ansicht nach schwerpunktmäßig in pädagogischer Hand liegen.
Obgleich ich hier die einzelnen Kompetenzschwerpunkte gegeneinander gestellt habe, heisst dies aber nicht, dass sich sowohl Pädagogen als auch Akustiker Basiskompetenzen aus dem jeweils anderen Fachbereich aneignen können. So gibt es Hörgeräte-Akustiker, die sehr gute Hörmessungen bei kleinen Kindern durchführen und entsprechende Messbedingungen in ihren Betrieben organisieren. Es gibt aber auch Pädagogen, die zuverlässige InSitu-Messungen in den Schulen durchführen. Die einzelnen Kompetenzen lassen sich durchaus ergänzen. Nehmen Sie zum Beispiel die HG-Kontrolle, die mittlerweile in den pädagogischen Alltag integriert ist. Im Falle technischer Auffälligkeiten wird der betreuende Hörakustiker dann aufgrund der Meldung des Pädagogen zur genaueren Analyse des HG-Defektes herangezogen.
(Friedberger Modell: Hörakustiker fest in der Einrichtung mit 0.5-Stelle angestellt, enge Zusammenarbeit zwischen Pädagogik und Technik dadurch gewährleistet).
Möglichkeiten einer interdisziplinären Zusammenarbeit
Wie kann nunmehr eine interdisziplinäre Kooperation zwischen Pädagogen und Akustikern konkret ablaufen?
Anzustreben ist der Aufbau einer Informationskette zwischen Eltern, Akustikern, Medizinern und Pädagogen.
So führen wir in Friedberg über den kurzfristigen telefonischen Direktkontakt hinaus „Halbjahres-Gespräche“ mit den Kliniken unseres Einzugsbereiches durch. In diesen Gesprächen, die wechselweise in der Klinik oder in unserer Frühförderstelle stattfinden, stehen Fallbesprechungen gemeinsam betreuter Kinder im Zentrum.
Die Kommunikation mit den örtlichen Hörgeräte-Akustikern erfolgt primär über Telefonkontakt, über Fax vor allem zur schnellen Übermittlung audiometrischer Daten oder in fallbezogenen Einzelgesprächen vor Ort im Akustiker-Betrieb gemeinsam mit den Eltern.
Der Position des Pädagogen im Rahmen der Frühförderung kommt dabei eine Schlüsselposition zu. Von Beginn der Förderzeit an kommt es zu einer intensiven Zusammenarbeit zwischen der Familie und dem Frühförderer. Die Pädagogen erleben regelmäßig Eltern und Kind in vertrauter Umgebung ebenso wie bei Aufenthalten in der Frühförder-Einrichtung. Es entwickelt sich in der Regel eine auf Vertrauen basierende Beziehung, die auf gegenseitiger Kenntnis beruht. Eine solche Vertrautheit entwickelt sich zwischen Eltern und Hörakustikern bzw. Eltern und Medizinern nur in Ausnahmefällen. Die Schlüsselposition des Pädagogen zeigt sich darüber hinaus auch darin, dass er es erfahrungsgemäss ist, der eine Informationskette initiiert, um den Anpassungsprozess zu harmonisieren. Diese Initiative trifft bei Medizinern, Akustikern und Eltern in der Regel auf ein positives Echo. Denn letztendlich kommt ein Informations- und Meinungsaustausch allen am Anpassungsprozess Beteiligten zugute. Ein isoliertes Nebeneinanderher-arbeiten ist ineffektiv.
Eine andere Form interdisziplinärer Kooperation eröffnet sich im Rahmen eines Arbeitskreises. Vor etwa fünf Jahren ist es gelungen, einen solchen Arbeitskreis mit Akustikern unseres Einzugsgebietes, die bezüglich der Hörgeräteversorgung von Kindern aktiv sind, aufzubauen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hat sich dieser Arbeitskreis mittlerweile als eine feste interdisziplinäre Grösse etabliert. Pro Jahr finden 1 – 2 Treffen in unserer Frühförderstelle statt. Koordination und Organisation der Treffen liegen dabei in pädagogischer Hand.
Welche konkreten Inhalte stehen im Zentrum des Arbeitskreises?
- Austausch über aktuelle Themen (z.B. neue HG-Typen, neue Hörmess-Verfahren und deren Durchführung)
- konkrete Projekte (z.B. Erarbeitung eines „Hörplaners“, Entwicklung eines einheitlichen Beobachtungs-Bogens)
- Fallbesprechungen
Lassen Sie mich beispielsweise den im Rahmen dieses Arbeitskreises entstandenen Hörplaner kurz vorstellen: Es handelt sich um ein Begleitheft für die Eltern, in dem alle die HG-Einstellung betreffenden Daten enthalten sind. Allen am HG-Anpassungsprozess Beteiligten soll dadurch ein Mitteilungsinstrument zur Verfügung gestellt werden, mit dessen Hilfe wichtige hörgerätespezifische Informationen schriftlich fixiert vorliegen. Die Eltern werden entlastet, indem sie Mitteilungen zwischen den Fachleuten nicht mehr hin- und her transportieren müssen. Der Anpassungsprozess zwischen den Fachleuten wird transparenter und effektiver gestaltet. Zudem können die Eltern mit dem Hörplaner auf ein Ordnungssystem für alle akustisch-audiologischen Untersuchungen und Messungen zurückgreifen. Mein Ziel ist es, auf möglichst viele Hörgeräte-Akustikerbetriebe in unserem regionalen Einzugsbereich zurückgreifen zu können, die Erfahrung haben im Hinblick auf die HG-Anpassung bei Kleinkindern. Es soll sich so ein Netzwerk von entsprechenden Akustikergeschäften über das Einzugsgebiet verteilen, so dass Eltern hörgeschädigter Kinder kompetente Ansprechpartner in relativer Nähe des Wohnortes vorfinden.
Schluss
Abschliessend noch einige Wünsche bzw. Appelle, die nach meiner Erfahrung grundlegend sind für eine effektive und harmonische interdisziplinäre Zusammenarbeit:
• Bereitschaft zur Kommunikation, zum Informations-Austausch mit allen am HG-Anpassungsprozess Beteiligten (nicht kommunizieren ist fatal, keine Meinungs-Übermittlung mithilfe von Eltern)
• gegenseitige Anerkennung der berufsgruppen-spezifischen Kompetenzen (gleichberechtigte Kooperation ohne berufsgruppen-spezifische Überheblichkeiten, Kritik-Bereitschaft, Öffnung bedeutet auch Bereitschaft zur Meinungs-Änderung)
Durch kontinuierliches Abstimmen der Vorgehensweisen nimmt die Qualität unserer fachlichen Arbeit zu. Darüber hinaus wird den Eltern dadurch Sicherheit und Orientierung vermittelt. Im Interesse des hörgeschädigten Kindes sollten Standesdünkel und berufliche Überheblichkeiten außen vor bleiben. Entscheidend ist: Wie bringen wir unsere Fähigkeiten zum Wohle des Kindes und seiner Hörentwicklung zusammen, insbesondere vor dem Hintergrund einer relativ kurzen Hörbahn-Reifungsphase? Das Kind steht im Zentrum – nicht wir!
Daher mein Schlussappell: Nicht konkurrieren, sondern kooperieren!
Frei, unabhängig und anspruchsvoll – so soll Ihr Hörsystem in der neuesten Generation aussehen: