Was bringen digitale Hörgeräte? (To be Insider in 10 Minute n)

Im Gespräch:

Prof. Jürgen Kießling und

Prof. Birger Kollmeier

 

»Hörakustik«: Professor Kollmeier, Professor Kießling, der letzte EUHA-Kongress hat gezeigt, dass die Digitaltechnik die beherrschende Technologie in unserer Branche geworden ist. Kaum eingeführt, geht die Entwicklung bei den Digitalgeräten so rasant weiter, dass einige bereits von der „3. Generation“ sprechen. Was bringt die Digitaltechnik dem Schwerhörigen denn nun wirklich, und zwar aus wissenschaftlicher Sicht?

Prof. Kießling: Man muss ganz klar sehen, dass die Digitaltechnik nur eine Technologie ist, also ein Werkzeug, das ohne intelligente Anwender und Anwendungen nicht von allein von Nutzen sein kann. Ob und was der Schwerhörige davon hat, hängt also ganz davon ab, was wir daraus machen. Den ganz entscheidenden Vorteil dieser Technik sehe ich in der Möglichkeit, wesentlich intelligentere Signalverarbeitungs-Strategien in die Hörsysteme zu implementieren.

Prof. Kollmeier: Sie bietet in jedem Falle viel mehr Möglichkeiten als die Analogtechnik. Als Beispiel nenne ich die wesentlich grössere Fähigkeit, Störgeräusche herauszufiltern und gezielt die Nutzsignale zu verstärken.

»Hörakustik«: In welchen Situationen ist das von Bedeutung?

Prof. Kollmeier: In allen Lärmsituationen, also zum Beispiel auf einer vielbefahrenen Strasse, in einem gut besuchten Restaurant, in der Nähe einer Baustelle, in der Halle eines grossen Bahnhofs und so fort…

Prof. Kießling: …was für die Schwerhörigen bislang zweifellos das größte Problem darstellt. Die Analoggeräte haben zwar auch schon Möglichkeiten der Störschall-Begrenzung geboten, aber nur in Form passiver Strategien, also durch Beschneidungen, Kompressionen und Verstärkungsreduktionen, die jedoch die Sprachverständlichkeit beeinträchtigt haben. Die aktiven und »intelligenten« Strategien der Signalverarbeitung können Störschall und Sprache bedingt voneinander unterscheiden und so bevorzugt störschall-behaftete Frequenzbänder gegenüber den sprachdominanten Frequenzbereichen absenken.

Prof. Kollmeier: Wobei es auch bei der Digitaltechnik auf das „Wie“ ankommt. Die Wirksamkeit der Störschall-Unterdrückung hängt sehr davon ab, welche Signalverarbeitungs-Algorithmen in dem digitalen Hörgerät verwendet werden. Die neue Generation der Digitalgeräte verspricht einen greifbaren Fortschritt in diese Richtung. Aber ich glaube auch, dass wir erst am Anfang einer grossen Entwicklung stehen.

»Hörakustik«: Die Signalverarbeitung findet bei Digitalgeräten auch zunehmend in mehreren Frequenzbändern gleichzeitig statt…

Prof. Kollmeier: Ja, im Gegensatz zu den analogen und den digital gesteuerten analogen Hörgeräten können die Geräte mit rein digitaler Signalverarbeitung viele Frequenzbänder gleichzeitig kontrollieren. Das hat den Vorteil, dass man dem Patienten für jeden Abschnitt des hörbaren Frequenzbereiches die optimale Verstärkung entsprechend seiner Hörverlust- Kurve anbieten kann. Ebenso kann man bei der Dämpfung von Störgeräuschen selektiv vorgehen. Man könnte das eine „intelligente Signalverarbeitung“ nennen, die in jedem Falle ausgefeilter und exakter ist, als das bei den analogen Geräten möglich ist.

»Hörakustik«: Spracherkennung und Störschallunterdrückung sind ein Thema. Gibt es daneben weitere „intelligente“ Leistungen der Digitaltechnik?

Prof. Kießling: Ja. Ich denke da an die Mehr-Mikrofon–Technologie, die auch schon in Analoggeräten realisiert worden ist. Der Unterschied liegt aber, wie bei der Störschall-Unterdrückung, auch hier bei der Frage des „Wie“´s. Die analoge Technik wird Schallsignale, die von hinten auf das zweite Mikrofon treffen, nur elektroakustisch dämpfen oder regeln können. Mit digitaler Technologie hat man bei Verwendung von 2 (oder mehreren) Mikrofonen zusätzliche Möglichkeiten, die Vorne-Richtung gegenüber dem von hinten einfallenden Schall zu betonen.

Prof. Kollmeier: Dazu kommt die Möglichkeit, Rückkopplungen „aktiv“ zu vermeiden. Analoge Systeme konnten eine bereits aufgetretene Rückkopplung nur nachträglich so schnell wie möglich unterdrücken. Digitale Werte können die Wiedergabe eines Hörgerätes dagegen ständig auf aufkommende Rückkopplungen hin überwachen und gegebenenfalls nur das Rückkopplungs-verursachende Frequenzband dämpfen.

»Hörakustik«: Diese neuen Möglichkeiten bedeuten für die Hörgeräte-Industrie vermutlich eine enorme Herausforderung?

Prof. Kollmeier: Oh ja, sogar in zweifacher Hinsicht! Einmal müssen die vielfältigen Funktionen eines Hörgerätes von einem Chip mit einer sehr hohen Rechenleistung – vergleichbar einem Pentium-Prozessor der neuesten Generation – bewältigt werden, und das mit einer winzigen Batterie mit nur 1 Volt Spannung! Dazu soll das Gerät dann auch noch möglichst klein sein und im Gehörgang verschwinden. Das ist die technologische Herausforderung auf der Hardware-Ebene. Dazu kommt als 2. die Notwendigkeit, die Hardware auch mit intelligenter Software zu programmieren. Um diese Software aber überhaupt entwickeln zu können bedarf es wiederum immer besserer technologischer und audiologischer Kenntnisse.

»Hörakustik«: Das hört sich so an, als ob Hardware und Software bei der Entwicklung gleiche Priorität hätten. Gibt es in der Zukunft kein Übergewicht der Software?

Prof. Kollmeier: Ich sehe da eher ein Wettrennen zwischen den beiden Elementen. Neue Software braucht neue und leistungsfähigere Hardware, und die bessere Hardware ermöglicht neue Software mit noch mehr und noch intelligenteren Anwendungen. Man kann aber sicherlich sagen, dass der Motor der Entwicklung die Software ist. Da liegt noch ein weites Feld vor uns, denn wir wissen immer noch zu wenig über die Fehlfunktionen des geschädigten Gehörs.

Prof. Kießling: Ich möchte dazu noch bemerken, dass die Industrie aufpassen muss, dass die Digitaltechnik nicht bloss zu einem Schlagwort verkommt. Sie muss mit Inhalten gefüllt werden, die für den Schwerhörigen quantifizierbaren Nutzen bieten, sonst verliert das Gütesiegel „digital“ schnell seine Glaubwürdigkeit.

»Hörakustik«: Man kann sich vorstellen, dass nicht nur die Industrie vor grossen Herausforderungen steht, sondern auch die Wissenschaft. Welchen Einfluss hat die Digitaltechnik auf Ihre Forschungsarbeit?

Prof. Kollmeier: Unsere Forschungsarbeit zielt – kurz gesagt – darauf ab, immer bessere Daten über das Zusammenspiel zwischen dem geschädigten Hörvermögen und den digitalen Signalverarbeitungs-Prozessen zu erarbeiten, die dann der Ausgangspunkt für spezielle audiologische Software-Entwicklungen sein können.

Prof. Kießling: Ich möchte sogar behaupten, dass die Forschung der Entwicklung schon immer ein gutes Stück voraus war! Wir haben ja bereits mit der Digitaltechnik gearbeitet, als diese noch lange nicht auf dem Markt war. So arbeiten wir heute mit Signalverarbeitungs-Strategien der nächsten und sogar der übernächsten Generation, die uns im Rahmen eines Verbund-Forschungsvorhabens von den Kollegen der Universität Oldenburg und der FH Nürnberg zur Erprobung zur Verfügung gestellt werden.

»Hörakustik«: In letzter Zeit gibt es einen Disput in unserer Zunft, ob eine geschlossene oder eine offene Software-Plattform von grösserem Nutzen ist. Wie stehen Sie dazu?

Prof. Kollmeier: Der Vorteil des offenen Systems ist derselbe wie bei einem PC. Der Akustiker kann mit ein- und derselben Hardware die Software der verschiedensten Hersteller anwenden und sie jederzeit mit „Updates“ nachbessern. Es bleibt allerdings das Problem, dass die Hardware auch veralten kann, also neuen Anwendungen hinsichtlich Rechner-Kapazität und -Schnelligkeit nicht mehr gewachsen ist.

Prof. Kießling: Das sehe ich genauso. Bei aller Euphorie über offene Plattformen, die natürlich viel flexibler sind als die „verdrahteten“, muss man ganz klar sehen, dass sich auch die „offene“ Technik ständig weiterentwickelt und neue Hardware benötigen wird. Die Vorstellung, dass ein Schwerhöriger sein Leben lang dasselbe Hörgerät tragen kann, weil dessen Programme immer wieder erneuert werden können ist deshalb unrealistisch. Ich glaube, dass auch das Design der Hardware, also auch im Sinne des äusseren Erscheinungsbildes, weiterentwickelt werden muss und wird.

»Hörakustik«: Was wird Ihrer Meinung nach technologisch noch auf uns zu kommen?

Prof. Kollmeier: Ich glaube, dass die Störgeräusche ein Thema sind, das uns noch eine ganze Weile beschäftigen wird. Das Problem ist, dass Störgeräusche sehr unterschiedlicher Natur sein können und ihre Lautstärke, räumliche Zuordnung und Qualität sehr schnell verändern können. Die Hörgeräte der Zukunft werden hier noch besser darauf reagieren müssen. Wenn man noch weiter in die Zukunft blickt, dann könnte es vielleicht sogar sein, dass die Hörgeräte eines Tages Bestandteil eines winzigen persönlichen Kommunikations-Managers sind, der am Körper getragen wird und Funktionen ermöglicht wie

  • Telefonieren,
  • Musik hören,
  • Wecken,
  • Aufzeichnen,
  • Texte verarbeiten und eben auch
  • … besser Hören!

Prof. Kießling: Das mag eines Tages so sein. Für die nähere Zukunft erwarte ich aber zunächst, dass die Digitaltechnik, die bei hohen Stückzahlen sehr kostengünstig und zuverlässig produziert werden kann, einen Rückgang des jetzigen hohen Preisniveaus möglich macht. Ich glaube sogar, dass sie in nicht zu ferner Zeit der Standard bei Hörgeräten überhaupt sein wird. Aber wichtiger als die kommerziellen Aspekte sind mir die technologischen und audiologischen. Ergänzend zu der Störgeräusch-Problematik, die Professor Kollmeier eben nannte möchte ich auch die Fehlhörigkeit als weites Feld für unsere weitere Forschungs- und Entwicklungs-Arbeit nennen. Bei allen Innenohr-Schwerhörigkeiten haben wir ja die Problematik, dass nicht nur zu leise gehört wird, bei gleichzeitiger Überempfindlichkeit gegen hohe Lautstärken, sondern vor allem falsch. Da gibt es noch viel zu tun.

»Hörakustik«: Zurück zur Gegenwart: Was hat eigentlich der Schwerhörige von einer offenen Plattform?

Prof. Kollmeier: Der wird den Unterschied zunächst natürlich nicht bewusst registrieren, obwohl er durchaus einen Nutzen davon hat. Er weiss ja nichts von offenen und geschlossenen Plattformen. Aber nach einer Weile wird ihm aufgehen, dass er jetzt mehr akustische Auswahlmöglichkeiten hat als früher, und zwar über die Herstellergrenzen hinweg. Man könnte das mit dem Kauf eines Automobils vergleichen. Mit der geschlossenen Plattform kann ich innerhalb einer Marke verschiedene Modelle und Preisklassen auswählen, mit der offenen Plattform kann ich zusätzlich innerhalb einer Preisklasse die Modelle verschiedener Hersteller miteinander vergleichen, ohne gleich die ganze Karosserie austauschen zu müssen.

Prof. Kießling: Ich bin da etwas skeptischer. Der Schwerhörige, der bereits mit analogen Geräten versorgt worden ist, wird in den meisten Fällen den qualitativen Unterschied zur Digitaltechnik hören. Er wird auch den Unterschied zwischen einer einfachen Digitaltechnik und einer besonders anspruchsvollen hören können. Dabei ist natürlich immer vorausgesetzt, dass er adäquate Vergleichs-Möglichkeiten hat. Aber er wird den Unterschied zwischen „offen“ und „geschlosssen“ nicht hören können. Die Flexibilität bei der Auswahl der Software hat zunächst nur etwas mit der Arbeit des Hörgeräte-Akustikers zu tun.

»Hörakustik«: Wie wird sich denn die offene Plattform auf die Arbeit des Akustikers auswirken?

Prof. Kollmeier: Es wird in der Zukunft immer weniger auf handwerkliches Wissen und mechanische Fertigkeiten ankommen, dafür aber mehr auf audiologisches und software-bezogenes. Das bedeutet mit Sicherheit, dass die Hörgeräte-Akustiker ihr Berufsbild weiter entwickeln und einiges hinzulernen müssen…

Prof. Kießling: …Wobei ich nicht der Meinung bin, dass die Anpassung automatisierbar ist. Ich glaube, dass auch in der Zukunft das Gespräch mit dem Probanden, die persönliche Zuwendung und die ständige Betreuung von grösster Wichtigkeit sind, ja das könnte noch erheblich an Bedeutung gewinnen, gerade weil unser Wissen, unsere Technik und unsere Möglichkeiten der Versorgung zunehmen werden. Dafür wird vom Hörgeräte-Akustiker „handwerklich“, und zwar nicht im mechanischen, sondern im intellektuellen Sinne, mehr gefordert werden als heute. Ich meine damit

  • sein audiologisches
  • und technologisches Wissen,
  • seine soziale Kompetenz und
  • sein psychologisches Einfühlungsvermögen.

»Hörakustik«: Meine Herren, wir danken Ihnen beiden für das interessante Gespräch.

(Das Interview führte Rainer Hüls)

 

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Autor: Thomas Keck

Thomas Keck ist durch seinen Beruf als Hörsystemakustiker bestens mit der Präzision und Sorgfalt vertraut, die sowohl für die technische Arbeit als auch für den direkten Kundenkontakt erforderlich sind. Sein Werdegang zeugt von einer kontinuierlichen Entwicklung und einem hohen Maß an Fachwissen, unterstrichen durch den Meisterbrief und die Selbstständigkeit. Er verfolgt seine Interessen mit Leidenschaft und widmet sich einer Vielzahl von Aktivitäten, von Musik über die Beschäftigung mit Oldtimern bis hin zur Werteschätzung der Bibel. Thomas bewundert Menschen, die in ihrem Feld Spitzenleistungen erbringen, wie diverse Musiker und Schauspieler. Dies deutet auf eine hohe Wertschätzung für Expertise und handwerkliches Können hin.

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