Zuhören ist vom Hören zu unterscheiden und ist wie jenes auf verschiedenen Ebenen störbar. Es zählt nur scheinbar zu den selbstverständlichen menschlichen Begabungen. Mehr als Hören wird es von persönlicher Zuwendung in Offenheit und von der Bereitschaft zum Verstehen getragen. Der Beitrag will für eine Kultur des Zuhörens werben und sensibilisieren.
Zuhören können ist eine sehr komplexe Befähigung
Die kommunikative Nutzung des Gehörs setzt Zuhören voraus. Dabei kommt es nicht nur auf die physiologische Qualität der Hörleistung an, denn Zuhören setzt mentale Offenheit, Zuwendung und Willen zum Verstehen voraus, der Einfühlen und Eindenken benötigt.
Zuhören meint eine Form der Zuwendung auf einen anderen Menschen, dem ich tatsächlich und glaubwürdig Zeit, Interesse und Aufmerksamkeit schenke. Nur dieses Zuhören lässt Gedanken und Gefühle eines anderen verstehen. Viele Bereiche unseres kulturellen, geistigen wie politischen Lebens leben vom Zuhören. Auf Zuhören basiert jeder Unterricht, jede Belehrung, die kritisches Weiterdenken nicht ausschliesst.
Zuhören können verkümmert in der Routine
Patienten beurteilen z.B. die Qualität eines Arztes oft danach, wie gut oder schlecht dieser ihnen zuhören kann. Geklagt wird oft: „Der kann schon deshalb kein guter Arzt sein, weil er nicht zuhören kann.“ Tatsächlich verkommt Zuhören in der ärztlichen Routine leicht durch gewohnheits-gefestigte selektive Verkürzung der Wahrnehmung auf das diagnostisch und therapeutisch Wesentliche.
Patienten bemerken dies durchaus: „Herr Doktor, jetzt machen Sie ein Gesicht wie mein Mann, wenn er mir nicht zuhört.“
Weghören
Hören bewirkt nicht automatisch Zuhören. Weghören kann in manchen Situationen nützlich sein. Weghören kann systematisch genutzt werden, z.B. bei der Habituations-Therapie bei Tinnitus. Das Weghören meint hier eine Hinwendung auf andere, akzeptierte, akustische Reize oder auch auf innere Gedankenbilder, wie z.B. beim Tagträumen. Weghören kann das Gewissen schonen. Ob man das für ethisch zuträglich halten kann, sei dahingestellt. Man sollte aber das Verdrängen nicht grundsätzlich disqualifizieren. Was im einen Fall gut ist kann im anderen Fall nicht bejaht werden. „Hören Sie mir doch zu!“ ist eine Mahnung, die man aus parlamentarischen Debatten wie aus öffentlich oder privat geführten Diskussionen kennt. Dahinter steht ein allgemeines Problem, das sich als Gefährdung der Kultur des Zuhörens umschreiben lässt und über das es sich nachzudenken lohnt. Es hat mehrere Seiten.
Gefährdung der Kultur des Zuhörens
Die Neigung, optische Informationen zu bevorzugen, kann die Qualität des Zuhörens mindern. So ist das Fernsehen beliebter als der Hörfunk, dessen Qualitäten sich nur dem Zuhören erschließen, während Fernsehen das Zuhören abstumpft durch die ablenkende Flut der Bilder, die oft noch durch emotionalisierende Nachhilfen der musikalischen Untermalung eine stellungnehmende persönliche Emotionalisierung des Zuhörenden auf den Inhalt verkümmern lässt (eine Tendenz zur „emotionalen Entmündigung“).
Dem gesprochenen Wort allein trauen viele nicht viel Überzeugungskraft zu
Auf Kongressen gibt es kaum noch Redner, die bei Vorträgen nicht nur Tabellen optisch bebildern („The next slide please…“), sondern auch Thesen mitlesen lassen, um Wichtiges durch visualisierte Worte eindrucksvoll zu vermitteln.
Die Wahlplakate der Parteien zeigen bedeutsame Köpfe, die überzeugen sollen, während den gedruckten Worten in ihren seichten, markigen, kurzen Vieldeutigkeiten wohl zurecht keine Werbekraft zugetraut wird.
In Gottesdiensten wird das Wort Gottes heute nicht nur gepredigt sondern vielfach auch kultisch in Szene gesetzt. Auf diese Weise kann der aktive kognitive Umgang mit dem Wort durch die rituelle Bebilderung oder Inszenierung auch meditativ, emotional oder auch transzendiert erfahren werden, zumal unsere Worte dem transzendenten Gegenstand wie einer Glaubensgewissheit nicht gewachsen sind.
Es besteht aber auch kein Zweifel daran, dass das simultane Ansprechen mehrerer Sinneskanäle die Aufmerksamkeit steigert und fokussiert und den Informationsfluss beschleunigen und auch vertiefen kann.
Menschen mit kognitiven Defiziten, z.B. kleine Kinder oder Schwerhörige, zeigen oft eine außergewöhnlich grosse Bereitschaft zum bzw. Intensität beim Zuhören. Kinder, die sich noch in der Sprechenlern-Phase befinden hängen mit gebannter Aufmerksamkeit an den Lippen der Erwachsenen. Ähnliches tun Schwerhörige beim Lippenablesen, was eine wahre geistige Aufgabe ist.
Wer zuhören will, will auch verstehen, will wissen, will Anteil nehmen. Bei Hörstörungen genügt dies Wollen zum Hören und Verstehen nicht. Es zeigt sich bei Schwerhörigen, dass Zuhören eine Interessen- und Erkenntnis-gesteuerte Reduktion von Informationen aus akustischer Vielfalt leistet, die in mimisches Verhalten eingebettet ist. Die Mimik kann dabei weiterhelfen, Vieldeutigkeiten zu klären und Unverstandenes zu erschliessen. Zuhören ist für Hörgeschädigte oft wie ein Lückentest.
Missverstehen als Fehler und als Kunst
Man kann fast alles sowohl richtig als auch falsch verstehen, je nach Standpunkt und Absicht. Diese Alltagserfahrung wird bei Auseinandersetzungen zwischen Politikern verschiedener Parteien immer wieder verdeutlicht. Manche Politiker haben die Umdeutung des von Gegnern tatsächlich Gemeinten zur hohen Kunst von Angriff, Verteidigung und Denunziation entwickelt.
Fahrlässigkeit und Vorsätzlichkeit des Missverstehens sind zu unterscheiden
Viele Missverständnisse im Alltag entstehen durch vorgefasste Erwartungen im Sinne persönlicher Selbstverständlichkeiten. Diese gehören zu den häufigsten Kommunikations-Störungen überhaupt. Man denke in dem Zusammenhang an die Streitgespräche in vielen Ehen, die sich in dem dialogischen Ritual festfahren: „Das hast Du gesagt.“ – „Nein, das habe ich nicht gesagt.“ Nicht selten werden diese deformierenden Missverständnisse, die nichts mit Schwerhörigkeit zu tun haben, als Waffe gegen die Wahrheit eingesetzt. Dahinter steht manchmal der „Zensor“ im eigenen Kopf. Nietzsche formulierte das sinngemäß so: „Meine Erinnerung sagte: Es war so; mein Stolz sagte: So kann es nicht gewesen sein; mein Stolz behielt recht.“
Anthropologische Anmerkungen zum Zuhören
Die Physiologie des Hörens ist besser erforscht als die Anthropologie des Zuhörens. Anthropologisch betrachtet hat Hören unterschiedliche Funktionen. Es vermittelt z.B. eine ständige Rundumkontrolle und Überwachung der Umwelt und löst bei drohender Gefahr eine Alarmreaktion (z.B. Schreck) aus. Akustische Alarmierung nimmt vielen Alltagsgefahren sowie plötzlichen Situations-Änderungen ihr Überraschungsmoment und erleichtert adaptives Verhalten. Schwerhörige, die z.B. nicht rechtzeitig akustisch auf die Schritte einer sich im Rücken nähernden Person hingewiesen werden, reagieren erschreckt, wenn sie plötzlich aus dichter Nähe angesprochen werden. Ihre ständige Alarmhaltung, die sie einnehmen, macht sie oft schreckhaft und nervös. Ihr häufiges Unsicherheitsgefühl im Alltag, das mit dem Ausfall der Alarmfunktion des Gehörs zusammenhängt, lässt sie oft misstrauisch werden.
Eine emotionale Wahrnehmungsfunktion des Gehörs befähigt uns, dem gesprochenen Wort implizite Beziehungs-Botschaften zu entnehmen, z.B. Ermahnung, Missbilligung, Trost, Lob, Zuneigung usw. Besonders bei den frühen Mutter-Kind – Kontakten sind diese seelischen Resonanzen über das Gehör von grosser Wichtigkeit. Die Traurigkeit eines depressiven Patienten offenbart sich oft zuerst in seiner melodisch verarmten, kraftlosen Stimme und seiner verlangsamten Sprechweise. Man könnte hier auch von einer psychodiagnostischen Funktion des Hörens sprechen. Diese wenigen Hinweise mögen an dieser Stelle genügen, um die Komplexität des Gegenstandes zu umreissen.
Zuhören reduziert Gehörtes
Zuhören hebt bestimmte Informationen als Figur von einem eher diffusen akustischen Hintergrund ab. Man sagt, dass wir nur etwa 30 % der uns umgebenden Geräusche bewusst wahrnehmen. Der viel grössere Teil wird ausgeblendet und herausgefiltert. Dies ist eine notwendige Voraussetzung für höhere kognitive Leistungen, wie zum Beispiel Aufmerksamkeits-Bildung, Konzentration und schlussfolgerndes Denken.
Bei schizophrenen und noch öfter bei hirnorganisch gestörten Patienten ist dieser Reizselektions-Vorgang offenbar auf einer zentralen Ebene gestört. Die Patienten leiden unter Reiz-Überflutung und -Schutzlosigkeit. Sie können bei dem Übermass zufliessender Informationen nicht mehr zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden. Zufällige Wahrnehmungen und Assoziationen, die beim Gesunden ausgeblendet werden, drängen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und führen zu den charakteristischen schizophrenen Denkstörungen (z.B. Zerfahrenheit).
Mit einer ähnlichen Filterstörung des Gehirns erklärt man auch die Existenz von Ohrgeräuschen (Tinnitus). Im Rahmen der Retraining-Therapie wird versucht, den Filter wieder aufzubauen, der verhindert, dass die störenden Ohrgeräusche in die bewusste Wahrnehmung aufsteigen. Mit der geübten Gewöhnung vollzieht sich eine akustische Abstumpfung gegenüber dem Tinnitusreiz.
Aufmerksames Zuhören schafft Kontraste und Abstufungen im akustischen Wahrnehmungsfeld. Zuhören bindet, ja fesselt die Aufmerksamkeit. Intensives Zuhören lässt eine Aufgabelung der Aufmerksamkeit in parallel ablaufende Haupt- und Neben-Tätigkeiten kaum noch zu. Nur automatisierte, nebenläufige Handlungen, wie zum Beispiel das Bekritzeln eines Stücks Papier während des Telefonierens, sind möglich. Aber auch dabei beobachtet man ein Einhalten mit der Nebentätigkeit, wenn die Bedeutsamkeit des Zuhörens gesteigert wird. Ein Beispiel: Unter Student:innen war vor Jahren das Stricken während der Vorlesungen sehr beliebt. Sobald der Dozent die Stimme hob, um die Wichtigkeit des gerade Gesagten zu unterstreichen, ruhten sofort alle Hände und man war ganz Ohr – bis auf jene, die stärker am Stricken interessiert waren.
Zuhören kann neben der kommunikativen auch eine beruhigende Funktion haben, die über emotionale Anteile der akustischen Information vermittelt wird. Man denke an die entspannende Wirkung von Musik oder bestimmten Naturgeräuschen oder an den beruhigenden Klang einer Stimme, zum Beispiel bei der verbalen Suggestion im Rahmen einer Hypnosebehandlung.
Psychotherapeutisches Zuhören
Psychotherapeutische Methoden haben eine Professionalisierung des Zuhörens, wenn auch mit manchen Fehlentwicklungen, gebracht, so z.B. mangelnde Personenorientierung durch selektives Zuhören, das nur theoretisch vorgegebene, z.B. psychoanalytische, Stichworte registriert. (Bürger-Prinz nannte dies „die Freude über das Finden selbstversteckter Ostereier“). Das starke Bedürfnis vieler Patienten, einen Partner fürs Zuhören zu finden, lässt vermuten, dass ihr Leiden auch mit einem Zuhör-Defizit im täglichen Leben zu tun hat. Es ist nicht überraschend, dass das blosse Zuhören des Therapeuten für die Akzeptanz und für den Erfolg einer Psychotherapie von grosser Bedeutung ist. Therapeutische Schulen, wie die Psychoanalyse, empfehlen den Therapeuten eine weitgehende sprachliche Zurückhaltung und eine Konzentration auf die Rolle des sensiblen und für alles offenen Zuhörers. Es ist eindrucksvoll, wie sehr dieses therapeutische Zuhören Druck von den Patienten nimmt, mehr als mancher gute Rat und viele gutgemeinte Worte.
Zuhören als therapeutisches Medium praktizieren ebenfalls Seelsorger, die damit auch zur Stress- und Trauma-Bewältigung (z.B. bei Zugkatastrophen), beitragen. Ehrenamtliche Patientenbetreuer in Krankenhäusern, Mitarbeiter von Pflegediensten am Bett von pflegebedürftigen alten Menschen, (in England auch professionelle counsellors), helfen wesentlich durch Zuhören.
Zuhören können ist Ausdruck einer inneren Haltung
Diese innere Haltung bedarf einer Kultivierung, um ihre humane Dimension zur Entfaltung zu bringen. Die akustische Wahrnehmung ist dafür nur eine notwendige, aber nicht zureichende Voraussetzung. Bedeutsam sind bestimmte Qualitäten der persönlichen Beziehung, bei der es auf Echtheit, Glaubwürdigkeit, Einfühlungsvermögen und Überzeugungskraft ankommt. Verstehen wird durch eine entgegenkommende Haltung erleichtert, die unterstellt, dass der andere etwas Vernünftiges, Sinnvolles gemeint hat. Wer diese Haltung des Zuhörens auch glaubwürdig verkörpert, besitzt Voraussetzungen für einen erfolgreichen Psychotherapeuten, gleich welcher Schulrichtung.
„Pseudozuhören“
Es gibt auch eine betrügerische Form des Zuhörens, wenn Mimik und Gestik zugewandt sind, der Geist der Person aber abgewandt ist, wenn man dem anderen sein Ohr gar nicht wirklich schenkt oder es ihm schon längst wieder entzogen hat. Manche vielbeschäftigte Zeitgenossen sind Routiniers in der Kunst der oberflächlichen Konversation ohne Zuhören, ohne Anteilnahme und daher auch ohne menschliche Begegnung mit dem anderen. Diese routinierte oberflächliche Vermeidung der Begegnung mag zwar in manchen privaten oder beruflichen Situationen ökonomisch sein und Selbstschutz bedeuten, es ist aber ein missachtendes, vortäuschendes Verhalten.
Strukturierte Interviews gegen die Befähigung zur Begegnung
Strukturierte Interviews sind in der Psychiatrie als Basis der statistischen Regelforschung dringend nötig. Sie haben auch den Vorteil, dass sie Anfängern zeigen, was beim Patienten beobachtet und erfragt werden kann. Durch Übung bekommt dieses Inventar auch für den Anfänger Werkzeugcharakter z.B. DIPS (Margraf u.a., 1991); SKID und SKID II (Wittchen u.a., 1990, 1991, 1993).
So nützlich solche Interviews für die Anfängerbildung sein können, so sehr bergen sie bei routinemässiger alleiniger Anwendung ein Risiko: sie behindern die Begegnungsfähigkeit und verzögern deren Bildung durch schematisiertes Wahrnehmen. Es ist verderblich zu glauben, dass die formalisierten Inhalte der strukturierten Interviews alles sind, was man über den Patienten in Erfahrung zu bringen braucht. Ein Irrtum, der sich in der Klinikroutine festigen kann. Eine weitere schädliche Nebenwirkung ist dann kaum zu vermeiden: Es fehlt die Übung zur freien, professionell gestalteten Begegnung mit der Person des Patienten und ihrem Leiden.
Diese Anmerkung ist leider nicht überflüssig, da der moderne klinische Betrieb zunehmend Tendenzen und Versuchungen zur Vermeidung der Personenorientierung erkennen lässt.
Dieser Trend sollte die Verantwortlichen erschrecken: bleibt so doch die Chance der Begegnung durch dialogisches Zuhören und Fragen unbeachtet und vernachlässigt. D.h. die eigentliche anthropologische Seite der nicht nur naturwissenschaftlichen Diagnostik verkümmert. Die von allen Seiten gewünschte humane Kultivierung der zunehmend technischen Medizin wird auf diese Weise stillschweigend und wirksam konterkariert.
Manipuliertes Zuhören
Zuhören als Eingang zu emotionalen und geistigen Manipulationen ist ein Thema der Sozialwissenschaften. Demagogische politische (Ver-)Führer missbrauchen Zuhören, um gezielte emotionale und gruppendynamische Resonanzen auszulösen, zum Beispiel kritiklose Begeisterung mit der Einschmelzung der Zuhörer zur Masse. Je intensiver der Redner die Zuhörer fasziniert, desto weniger werden mehrdeutige Aspekte des Gehörten kritisch reflektiert, auf die es dann auch immer weniger ankommt. Ähnlich der Wirkung psychedelischer Musik auf manche Gemüter wird der Geist entführt von der Realität in imaginäre Welten. Dieses Reden und Zuhören zielt nicht auf Information und Reflexion sondern auf emotionale Berauschung, bis hin zur Ekstase. Hitler galt als Meister der „beschwörenden Rede“, die es als Manipulationsinstrument benutzte. Er war nicht der Erfinder dieser Methode. Volkstribune in der Antike, der französischen Revolution, wie auch kommunistische Führer hatten schon vor Hitler diese Methode der Massensuggestion „erfolgreich“ praktiziert – wie andere auch nach ihm.
In-sich – Hineinhören
Eine andere Funktion hat das Zuhören bei therapeutischen Entspannungstechniken. Hier steht das Abschalten der Aussenreize im Vordergrund. Dafür tritt der Körper als Wahrnehmungsfeld in den Vordergrund. Ich höre in mich hinein, um den Zustand der Versenkung zu erreichen und um die Aussenwelt als Störreiz abzuschalten. Ein Zustand, der auch systematisch durch autogenes Training zu erreichen ist, in dem willentliche Beeinflussung vegetativer Funktionen möglich wird.
Hören und Zuhören sind entwicklungsfähig
Nur das musikalisch geschulte Ohr erkennt zum Beispiel Unterschiede zwischen musikalischen Produktionen verschiedener Solisten, Dirigenten oder Orchester oder zwischen den Wiedergabequalitäten verschiedener HiFi-Geräte. Es bedarf Hörerfahrung und Hörsensibilität, um in der Orchestermusik Aussergewöhnliches von Gutem unterscheiden zu können. Nur das geübte Ohr des Mechanikers oder Ingenieurs erkennt aussergewöhnliche Geräusche am Lauf von Maschinen und die dahinterstehenden Defekte. Nur die mit ihren Kindern sehr vertrauten Eltern erkennen an deren Stimme die vorherrschende Gefühlslage, ob z.B. Angst, Trauer, Verliebtheit oder eine Lüge daraus sprechen.
„Hören wir auch mit dem Herzen?“
So könnte man fragen in Abwandlung jenes Wortes von Antoine de Saint-Exupéry: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wichtigste ist für die Augen unsichtbar.“ Sicher gibt es in der zwischenmenschlichen Kommunikation einen solchen Verstehenszugang über das Herz, genauer: über die mitfühlenden Resonanzbildungen des gesprochenen Wortes, bei denen auch Mimik, Gestik und Prosodie (Rhythmik und Melodie der Sprache) eine Rolle spielen. Hören mit dem Herzen versetzt uns in die Lage, „zwischen den Zeilen“ zu verstehen und chiffrierte oder ungesagte Botschaften aufzunehmen und zu erkennen. Immer geht es dabei auch um Entscheidungen in Mehrdeutigkeiten, bei denen oft offenbleibt, ob wir verstanden haben und was wirklich gemeint worden ist (siehe den Jahrhunderte-währenden Streit um Bibelauslegungen).
Hören fördert Nähe und Vertrauen
Über das Hören realisieren sich menschliche Bedürfnisse nach Begegnungen in Geselligkeit, Kommunikation, intimer und vertrauter Nähe und Geborgenheit. Im gegenseitigen Zuhören können Menschen einander näherkommen und so auch emotionale Gemeinschaften entwickeln.
Über Hörwahrnehmungen, ständige akustische Rückmeldungen und deren Verständnis entwickelt der Mensch Vertrautheit und Vertrauen zu seiner unmittelbaren Umgebung. (Ein prägnantes Beispiel zeigt ein TV-Werbespot für neue Dieselmodelle. Ein älterer Herr wird mit einem solchen Pkw abgeholt. Er trägt Hörgeräte, die eingestellt sind auf die Lautstärke normaler Aussengeräusche, die man anfangs hört. Nun sitzt er in jenem Auto mit dem besonders leise laufenden Motor. Die plötzliche Stille im Fahrzeuginnenraum irritiert ihn. Verunsichert und nervös dreht er am Lautstärkeregler des Hörgeräts. Man sieht, wie er unter dem Eindruck des plötzlichen Zweifels an seiner Wahrnehmung leidet. Eine pfiffige Werbebotschaft, die eigentlich unnötig den Ärger der Hörgeräte-Industrie provoziert hat).
Pathologisches „Ver-Hören“
Akustische De-Realisationserlebnisse kennen wir in der Psychiatrie als Vorboten von akuten Angstanfällen. Die Patienten berichten z.B. von einem plötzlichen Leiserwerden der Stimmen und der Situationsgeräusche um sie herum. Die Situation bekommt für sie einen verfremdeten, unwirklichen Charakter. Der normale, vertraute Umweltbezug wird unterbrochen. Dies ist für viele Betroffene der psychische Schlüsselreiz für die plötzliche, panikartige Angst-Anflutung.
Ein anderes Beispiel aus der Psychiatrie sind die akustischen Halluzinationen als Symptom einer Psychose, die Zuhören erschwert oder verhindert. Die Patienten haben komplexe Hörwahrnehmungen – Geräusche oder Stimmen – ohne entsprechende Schallreize. In den meisten Fällen hören sie Stimmen, die zu ihnen sprechen oder ihre Gedanken kommentieren. Solche akustischen Sinnestäuschungen sind oft verbunden mit dem Gefühl, den Verstand zu verlieren, sie hinterlassen bei vielen Betroffenen Angst, Erregung, Entsetzen bis Panik, während andere sie nur stumpf hinnehmen.
Jedes dieser Beispiele macht deutlich, dass normales Hören eine zentrale Voraussetzung für situationsgerechtes, zwangloses und angstfreies Begegnen ist. Wo die Hörfunktion gestört ist, egal ob auf der Ebene der peripheren sinnlichen Wahrnehmung oder der zentralen Hörverarbeitung, ist auch auf der Ebene des psychischen Wohlbefindens und des Sozialverhaltens mit Störungen zu rechnen, die fast immer Leidensdruck hinterlassen. Von daher verwundert es nicht, dass Menschen mit Schwerhörigkeit, Taubheit oder Tinnitus eine erhöhte psychosomatische Störbarkeit aufweisen, die Begegnungen erschwert. Oft ist ihr Lebensgefühl verunsichert und von sozialen Vermeidungs-Reaktionen durchsetzt, mit denen sie sich Schritt für Schritt aus Gemeinschaften zurückziehen.
Schwerhörig sein
Die tägliche Lebensbewältigung fordert Hörgeschädigten mehr Kraft und Antrieb und eine erhöhte Konflikt- und Stress-Toleranz ab. Chronische Erschöpfung zählt daher aus naheliegenden Gründen zu den häufigsten gesundheitlichen Störungen, die man bei hörgeschädigten Patienten in psychosomatischen Kurkliniken beobachtet.
Hören können bereichert die Lebensqualität durch Begegnungsfähigkeit. Hörhilfen sind deshalb auch Lebenshilfen! Auf diese einfache Formel lassen sich meine langährigen Psychotherapie-Erfahrungen mit Hörgeschädigten reduzieren. Mit Hörhilfen sind Hörgeräte und das Cochlea-Implantat (CI) gemeint, das Absehen vom Mund, aber auch die Ermutigung, nicht zu resignieren, sondern sich immer wieder aufs Neue den Herausforderungen des Alltags zu stellen.
Autor: Werner Richtberg
Unser Versprechen: wieder stärker verbunden als normalhörend!