Aus dem Alltag eines schwerhörigen Maschinen-Einrichters
Es ist 6:30 Uhr morgens. In einem grossen, holzverarbeitenden Industriebetrieb der mecklenburgischen Hansestadt Wismar beginnt die Frühschicht. Martin R. geht an seinen Arbeitsplatz. Er ist Maschinen-Einrichter. Die modernen hochtourigen Hobelmaschinen und Sägeanlagen müssen neu eingestellt werden, weil das Fabrikationsprogramm geändert wurde. Zudem gab es in der Nachtschicht einen Crash, ein Hobelstahl war gebrochen. Auch die Druckluftnagel-Anlage muss neu programmiert werden. Martin R. weiss, dass die Maschinen probegefahren werden müssen – es erwartet ihn eine Menge Lärm!
Martin R. ist schwerhörig – er hat einen unsymmetrischen Lärmschaden. Auf der linken Seite eine C5-Senke mit einem HVmax von 46 dB, aber mit ausgeprägtem Recruitment. Rechts einen Steilabfall bei etwa 1 kHz. Er trägt Hörgeräte auf beiden Ohren.
Dieses Mal werde ich Gehörschutz tragen – sagt er zu sich selbst. Das letzte Mal hat er den angebotenen Gehörschutz einfach ignoriert. Aus Bequemlichkeit? Nein, er hat grosse Probleme im Lärm.
Seine Kollegen setzen, wenn es, wie so häufig, sehr laut ist, einfach ihre „Mickey-Mäuse“ auf – aber er kann diese Gehörschutzkapseln nicht einfach über seine mit Hörgeräten bestückten Ohren stülpen. Die Kapseln sind zu klein, sie drücken und die Hörgeräte pfeifen wie Harry. Gehörschutzstöpsel kann er natürlich auch nicht zusammen mit seinen Hörgeräten tragen. Die Otoplastiken sind auch kein Gehörschutz-Ersatz, zumal sie Ventilationskanäle haben das hat er sich sagen lassen müssen.
Also Hörgeräte raus, Gehörschutzkapseln aufgesetzt und dann kommt garantiert so ein Vorarbeiter oder der Chef persönlich und will was von ihm. „Was? Wie bitte? Ach, Moment mal, ich habe meine Hörgeräte ja herausgenommen. – Oh, so ein Mist, entschuldigen Sie, ich habe leider total schmutzige Hände, damit kann ich meine Hörhilfen nicht einsetzen, ich gehe sie mal schnell waschen…“
Aber welcher Kollege wartet schon so lange, wenn er nur mal eine Frage hat? Schon sind sie verschwunden oder bereden mit einem anderen, besser hörenden Kollegen ihre Probleme.
Martin R. fühlt sich hilflos – „Wenn das so weiter geht werden sie mir sogar einen anderen Arbeitsplatz anbieten müssen – oder …“ Er mag gar nicht weiter denken.
Also Gehörschutz benutzen – diesen Lärm hält ja keiner aus! Sein Hörgeräte-Akustiker hat etwas von Lautheitsausgleich erzählt, er würde hohe Schallpegel fast lauter hören als ein Normalhörender! Es geht ihm auch tatsächlich so: Der Lärm dieser hochtourigen Maschinen geht ihm tierisch auf den Senkel.
Hörgeräte raus, sorgsam verstauen und Gehörschutzkapseln aufsetzen. Hoffentlich kommt jetzt keiner und will mit ihm reden…
Zur gleichen Zeit erreicht uns eine Anfrage des AMD, des Arbeitsmedizinischen Dienstes, einer Organisation der Berufsgenossenschaft des Baugewerbes – uns, die Akademie für Hörgeräte-Akustik in Lübeck. Ob wir in einem Vortrag vor Ärzten des AMD Neues zum modernen Stand der Hörgeräte-Technik und Versorgung speziell für Hörgeräte-Träger in der holzverarbeitenden Industrie berichten könnten. Der Auftrag ging an Esther Kruse und an den Chronisten.
Nun, auch moderne Hörgeräte mit Störschallunterdrückung und automatisch variabler Richtcharakteristik sind derartigem Lärm nicht gewachsen. In einem Industriebetrieb ist der Lärm häufig nicht auf eine Richtung beschränkt und die Frequenzbandbreite kann sehr gross sein. Für ausgesprochene Recruitmentfälle bieten zudem die Hörgeräte keinen ausreichenden Gehörschutz, erst recht nicht, wenn Bohrungen in der Otoplastik das Ohr belüften oder den Frequenzgang verändern sollen.
Was sollen wir tun? Einfach einen Vortrag halten und erläutern, was den Ärzten des AMD doch schon bekannt sein wird? Nein – und schon war eine Idee geboren.
Wir durchstöberten unsere Probandenkartei und bestellten zwei jung erhaltene Rentner, die über grosse Erfahrungen in lärmenden Industriebetrieben verfügen sollten.
Unsere Idee: Wir statten die Herren mit Gehörschutz aus, der sie trotz ihrer eingesetzten und eingeschalteten Hörgeräte in die Lage versetzen sollte, jederzeit ansprechbar zu sein – und trotzdem, gut behütet vor lauten Pegeln an einem fingierten Arbeitsplatz, sehr lautem Impuls- und flukturierendem Lärm zu trotzen.
Die beiden Herren kamen, nacheinander versteht sich. Alt erprobte Lärmarbeiter, Der eine war lange Zeit als Schiffs-Ingenieur tätig: Früher wurde auch bei Schiffsreparaturen noch genietet, wobei der Lärm in der ganzen Umgebung zu hören war – und Richtarbeiten mit schweren Vorschlaghammern an Schiffsteilen dröhnen tierisch laut. Gehörschutz kannte man noch nicht! Darum musste unser Proband auch seinen Job von heute auf morgen aufgeben, nachdem sich herausstellte, wie schwerhörig er geworden war. Auch er leidet unter dem Recruitment-Phänomen. Laute Schalle werden als äusserst unangenehm empfunden. Normalerweise leisten seine Hörgeräte sehr gute Arbeit, aber in extremen Lärmsituationen sind sie überfordert.
Unser zweiter Proband, Brillenträger, ist ebenfalls stark hörgeschädigt.
Er war Leiter einer Druckerei und laut seiner Aussage ca. 30 % des Tages Lärm über 90 dB(A) ausgesetzt. Wie bereits unser erster Proband trägt auch er digitale Hörgeräte.
Nach einer Einweisung und nach der Überprüfung ihrer Hörgeräte wurde es ernst – und laut. Zuerst ohne diesen neuartigen Gehörschutz, der von uns für Hörgeräte-Träger jetzt mit Recht favorisiert wird. Zur Kontrolle wurden die Lärmschallpegel gemessen, abstandsgleich zu den Probandenohren.
1. Eine Kreissäge mit einem Lärmpegel von 112 dB(AF). Der Messabstand zur Lärmquelle war identisch mit dem Abstand der Probandenohren zum Lärmerzeuger. Der Lärm ging durch Mark und Bein. Nicht nur uns beiden, auch den Probanden. Höflich beschrieben sie den Lärm als sehr unangenehm.
Dann wurde der Gehörschutz circumaural aufgesetzt und eingestellt. Auch ein Hörgerät musste leicht nachjustiert werden, weil es Rückkopplungen gab. Die Probanden konnten uns gut verstehen, Phantastisch!
Jetzt erneut dieser grässliche Lärm. Frau Kruse und ich hatten uns auch noch schnell Lärmschutzkapseln verordnet.
Erwartungsvolle Blicke, dann Staunen, dann Jubel – die Probanden machten jedesmal zufriedene Gesichter und bestätigten uns nach Abschalten der Lärmquelle – mit aufgesetztem Gehörschutz – eine hervorragende Lärmdämmung.
2. Die nächste Lärmquelle unserer Untersuchung war ein schwerer Hammer, der einen Amboss samt Holztisch zum Dröhnen brachte. Mit dem Impulsschall-Pegelmesser wurden gewaltige 127 dB(AI) gemessen. Der Erfolg mit dem Gehörschutz war wieder phänomenal. Zwischen der Hammerschlägen konnte man sich ganz normal mit dem Probanden, der den Gehörschutz ja noch über seinen Hörgeräten trug, unterhalten – und das, wie beide unabhängig voneinander zu verstehen gaben – mit gutem Verständnis auch der höheren Sprachfrequenzen.
Unsere Probanden wollten diesen Gehörschutz gar nicht mehr hergeben.
Unser Vortrag vor den Ärzten des AMD hat dann auch diese Ergebnisse als Bonbon präsentiert. Resultat: Dieser Gehörschutz soll jetzt in die Liste der Verordnungen des AMD aufgenommen werden.
Jetzt sind Sie wahrscheinlich neugierig geworden:
Der so erfolgreiche Gehörschutz für Hörgeräte-Träger ist eine grosse, sehr komfortabel sitzende, circumaural über den Hörgeräten tragbare Gehörschutzkapsel, gross genug und innen sehr gut gedämpft, so dass ein Rückkopplungs-Pfeifen bei richtig eingestellten Hörgeräten nicht auftritt. Sie sind mit einer aktiven elektroakustischen Komponente versehen, bestehend aus Stereomikrofonen, Verstärker, Frequenzfilter, Lautstärkesteller und Lautsprechern. Alles in den Kapselgehäusen integriert. Bis zu einem Schallpegel von L = 82 dB(A) übertragen die Kapseln ein auf die Sprache zugeschnittenes Frequenzband von 0,5 bis 3 kHz. Sie können sogar bis zu 20 dB verstärken. Oberhalb von 82 dB(A) machen sie „zu“, dann ist die Schalldämmung sehr effektiv. Sinkt der Lärmpegel wieder unter diesen Wert, so ist eine sehr gute Verständigung möglich.
Der perfekte Gehörschutz für Hörgeräte-Träger, vor allem in fluktuierendem Lärm oder im Impulslärm. Die Hörgeräte sind vor Schmutz und Staub geschützt. Ideal für Hörgeräte-Träger, die in Lärmpausen angesprochen werden möchten, ohne sich erst die Hände waschen zu müssen, um sich die Hörgeräte nach Entfernen des Gehörschutzes wieder anzulegen – um dann zu erleben, dass der Kollege schon wieder keine Geduld mit ihnen hatte. Martin R. wird sich freuen!
Technische Daten
Lärmpegelbegrenzen: 82 dB(A)
Abschaltautomatik der Elektronik nach 8 Stunden Betriebszeit
Energie: 9 V Batterie, 6F22 (reicht für 350 Betriebsstunden)
Gewicht inkl. Batterie: 338 g
Filterduchlass: 400 – 3’500 Hz
Verstärkung: 20 dBmax
Wiedergabe: stereo
Lautstärkeregler und Ein-/Aus-Schalter
Stereobalance +6 dB, bis unendlich
Zubehör: Austauschkissen, Schweissauflage für Dichtungskissen
Autor: Dipl.-Ing. Ulrich Voogdt