Hörsysteme im „TEST“
Die Stiftung Warentest hat in den Ausgaben 9 – 12/’99 sowie 1/2000 innerhalb des „Journal Gesundheit“ ihrer Zeitschrift »test« fünf Folgen über das Hören, über Lärm, Ohrenerkrankungen, Operationen, Hörgeräte-Anpassungen und Miniaturisierung von Hörsystemen veröffentlicht. Nachfolgend dokumentieren wir wesentliche Passagen dieser Publikationen zur Information unserer Leser und bringen eine Kommentierung von Gerhard Hillig zur letzten Fortsetzung „Hörgeräte – immer kleiner, immer besser?“
test #9
Einsam
Wir haben zwar zwei Ohren, doch nur eine Chance. Immer mehr Menschen, auch Kleinkinder und Jugendliche, hören schlecht. Durch Zivilisationslärm und Versäumnisse bei der Vorsorge.
Der Mutter des kleinen Kai fiel auf, dass ihr Sohn sich nie nach ihr umschaute, wenn sie den Raum betrat. Auf dem Spielplatz stellte sie fest, dass Kai im Vergleich zu anderen Zweijährigen nur wenig und undeutlich sprach. »Das verwächst sich. Mit dem Jungen ist alles in Ordnung, das sieht man doch«, tröstete die Schwiegermutter. Und als Kai wenig später begeistert einem Flugzeug nachschaute und „flugga, flugga“ rief, schalt sich seine Mutter eine überbesorgte Glucke.
Erst ein halbes Jahr später erzählte sie dem Kinderarzt von ihrem Verdacht. Doch da war es für eine Schadensbegrenzung schon viel zu spät.
Leichte oder mittlere Hörstörungen werden häufig erst im Kindergarten – oder gar im Grundschulalter diagnostiziert – trotz aller Vorsorge- und Reihen-Untersuchungen. Selbst an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit wird im Durchschnitt erst knapp vor der Vollendung des 2. Lebensjahres erkannt.
Exakte Zahlen über die Häufigkeit kindlicher Hörstörungen gibt es nicht. Experten schätzen, dass von 1’000 Neugeborenen 1 – 2 schwerhörig sind. Insgesamt gibt es in der Bundesrepublik vermutlich mehr als eine halbe Million Kinder mit behandlungsbedürftigen Hörstörungen, zwischen 20’000 und 35’000 haben eine permanente mittel- oder hochgradige Schwerhörigkeit: Das bedeutet mindestens 40 Dezibel (dB) Hörverlust auf dem besser hörenden Ohr im Vergleich zu Normalhörenden.
Die dB-Zahl allein sagt allerdings nicht alles aus. Denn wie gut oder schlecht Kinder mit der Schwerhörigkeit im Alltag zurechtkommen ist individuell sehr verschieden und hängt stark vom rechtzeitigen Beginn und von der Intensität einer gezielten Förderung ab.
Ungenutzte Monate
Die
Klinik für Audiologie und Phoniatrie der
Freien Universität Berlin sammelt seit gut 3 Jahren Daten rund um die kindliche Schwerhörigkeit in einem Zentralregister. Aus der bundesweiten Erfassung von bisher rund 3’000 Kindern geht hervor, dass zwischen dem 1. Verdacht der Eltern und der Diagnose durch einen Facharzt in vielen Fällen mehr als ein Jahr vergeht – ein erschreckend langer Zeitraum, betont Projektleiter
Professor Manfred Gross. Denn im frühen Kindesalter kommt es ohne akustische Reize schon nach wenigen Monaten zu nicht wieder gutzumachenden Schäden. Bereits bei einem beidseitigen Hörverlust von 25 – 40 Dezibel können die Folgen fatal sein: verzögerte oder ausbleibende Sprachentwicklung, Beeinträchtigung der Lernfähigkeit, mangelnde soziale Integration. Mit entsprechender Förderung haben heute dagegen sogar stark schwerhörige oder gehörlose Kinder gute Chancen, mit ihren Altersgenossen gleichzuziehen.
Mängel werden kaschiert
Dass Eltern sich so schwer damit tun, eine Hörstörung bei ihrem Nachwuchs zu erkennen hat verschiedene Gründe – zum Beispiel die extrem unterschiedliche Sprachentwicklung von Kindern. Ausserdem verfügen die meisten hörgeschädigten Kinder über ausgefeilte Ersatzstrategien. Sie wirken oft durch intensiven Augenkontakt und ausgeprägte Körpersprache besonders zugewandt. Die anderen Sinne springen ein: Hebt das Kind die Augen zum Himmel, glauben die Eltern, es habe das Flugzeug gehört. Tatsächlich aber wurde die Aufmerksamkeit durch die Lichtveränderung geweckt.
Fehler der Ärzte
„Solche Verhaltensweisen werden gerne von Dritten herangezogen, um zu begründen, warum man sich keine Sorgen zu machen braucht“, erklärt die Ärztin Maria-Elisabeth Spormann-Lagodzinski vom Deutschen Zentralregister für kindliche Hörstörungen am Charité Campus Benjamin Franklin (CBF) der FU Berlin. Der Verdacht auf Schwerhörigkeit wird allzu häufig abgeblockt. Schliesslich ist ein schlechtes Gehör immer noch ein Makel – wer eine Brille trägt, gilt als intelligent, wer ein Hörgerät nutzt, als doof.
Das gilt nicht nur für Verwandte und Freunde, sondern auch für Kinder- und HNO-Ärzte. Maria-Elisabeth Sparmann-Lagodzinski erinnert sich an einen Fall, in dem mehrere Ärzte den besorgten Eltern versichert hatten, dass „Jungs eben später d’ran“ seien und mit diesem Hinweis einen Hörtest über Monate verhinderten. Häufig kommt es auch vor, dass Kinder während der Vorsorge-Untersuchungen beim Kinderarzt weinen und schreien, so dass selbst einfache orientierende Hörtests mit Rasseln oder Glöckchen nicht möglich sind. Eine spätere Nachkontrolle ist in den Untersuchungsheften nicht vorgesehen und wird häufig vergessen. Selbst wenn bei der Untersuchung alles glatt geht, heisst dies nicht, dass das Gehör wirklich in Ordnung ist – die gebräuchlichen Hörtests sind oft allzu oberflächlich. Auch bei den Einschulungs-Untersuchungen „rutschen“ leichte und mittlere Hörstörungen öfter mal durch.
Fälle für Spezialisten
Wenn Eltern nach dem Kinderarzt einen Facharzt konsultieren wollen, sollten sie einen HNO-Arzt mit Spezialisierung auf Kinderaudiometrie oder – noch besser – einen Facharzt für Phoniatrie und Pädaudiologie wählen. Bei der Waht des Hörgeräte-Akustikers ist es ebenso wichtig, darauf zu achten, dass er sich mit Kindern auskennt. Viele verfügen nicht über kindgerecht ausgestattete Räumlichkeiten und nehmen keine Rücksicht auf Besonderheiten der kindlichen Schwerhörigkeit. Schwerhörige Kinder haben im Gegensatz zu Erwachsenen oft noch nie einen normalen Höreindruck gehabt. Schon deshalb können sie bei der ersten Hörgeräte-Anpassung nicht in gleicher Weise mitarbeiten wie Erwachsene. Universitätsstädte mit medizinischer Fakultät verfügen in der Regel über pädaudiologische Zentren.
Hörgeräte für die Kleinen
Bei dauerhaften Hörstörungen (meist Schallempfindungs-Störungen) ist das Anpassen eines Hörgeräts in der Regel die Therapie der Wahl, denn die betroffenen Sinneszellen können nicht neu gebildet werden. Die Hörgeräte-Anpassung sollte möglichst schon vor dem 6. Lebensmonat erfolgen. Rund 80 – 90 % der dauerhaften Hörschäden bestehen schon bei Geburt, rund die Hälfte gilt als genetisch bedingt. Letztere treten meist isoliert, teils auch im Rahmen eines Syndroms auf. Manche der vererbten Hörstörungen entwickeln sich aber auch erst im frühen Kindesalter.
Bei den während der Schwangerschaft erworbenen Hörschäden stand früher die Rötelnerkrankung der werdenden Mutter ganz oben an. Toxoplasmose, Syphilis, Zytomegalie oder Herpesinfektionen, auch bestimmte Medikamente sowie Alkohol und Nikotin können das Gehör des Ungeborenen schädigen.
Auch während und nach der Geburt können dauerhafte Hörschäden verursacht werden: zum Beispiel durch langdauernde Presswehen oder Saugglocken-Einsatz, durch Sauerstoffmangel oder sehr lange Beatmungszeiten (> 10 Tage).
Hörverlust, der erst in der frühen Kindheit entsteht kommt heute seltener vor als noch in den 50er- und 60er-Jahren. Damals zogen zahlreiche Infektionskrankheiten wie Masern, Scharlach und Mumps Hörschäden nach sich – dieses Risiko ist durch Impfungen und den Einsatz von Antibiotika heute gering. Eine häufige Ursache für das Entstehen einer Schwerhörigkeit im frühen Kindesalter ist jedoch immer noch die Hirnhaut-Entzündung (Meningitis).
Checks von Neugeborenen
Um Gehörschäden früh therapieren zu können, plädieren jetzt auch deutsche Fachleute nach U.S.-amerikanischem Vorbild für eine routinemässige Untersuchung aller Neugeborenen auf Schwerhörigkeit. Über die Notwendigkeit eines solchen Hörscreenings in den ersten 2 oder 3 Tagen nach der Geburt besteht Einigkeit, nicht aber über die Methode:
Als „Goldstandard“ für die Bestimmung der Hörschwelle bei Säuglingen gilt bisher die BERA, die Messung von Hirnstamm-Potentialen. Dieser Test ist allerdings Zeit- und Personal-aufwendig. Zwischen 25 Minuten und zwei Stunden dauert die Messung, der Säugling muss dabei schlafen, weshalb gelegentlich eine Kurz- oder Screening-BERA eingesetzt wird.
Alternativ steht der sogenannte OAE-Test zur Verfügung: Gemessen werden dabei jene Schallsignale, die nach einer Beschallung vom Innenohr als »Echo« abgegeben werden. Das erforderliche Gerät ist transportabel, kann auf der Entbindungs-Station eingesetzt werden. Der Test dauert nur 2 Minuten, liefert aber zum Teil auch falsch-positive Ergebnisse.
In den U.S.A. werden beide Methoden parallel angewandt. Hierzulande befindet sich das Screening erst in der Testphase. Nur wenige Krankenhäuser und Praxen verfügen über die erforderlichen Geräte und geschultes Personal. Ideal wäre ein Screening unter Aufsicht der Krankenhaus-Kinderärzte und eine Überweisung „hörauffälliger“ Kinder an Fachärzte für Phoniatrie und Pädaudiologie oder an HNO-Ärzte, die auf Kinder spezialisiert sind.
Bei Kindern, die älter als 2 Jahre sind, spielen zunehmend subjektive Hörtests eine Rolle. Sie erfordern die Mitarbeit des Patienten. Wenn sich der Verdacht auf eine Hörstörung bestätigt, muss unverzüglich die Versorgung mit einem Hörgerät eingeleitet werden: Denn Kinder müssen so rasch wie möglich hören lernen, da es bei fehlender akustischer Anregung sonst zu bleibenden Schäden der zentralen Hör- und Sprechverarbeitung kommt – „was Hänschen nicht hört, hört Hans nimmermehr“.
Bis die Ohren abfallen…
Im Kinderzimmer geben nicht nur die brüllenden Kleinen den Ton an: knatternde Autos, Kinder-Kassettenrekorder batteriebetriebene Monster – lautstarke Spielsachen sind auf dem Vormarsch. Im Schulalter folgen Gameboys, Computerspiele, tragbare Kassettenrekorder und CD-Player. Ruhe können viele Jugendliche nur noch schlecht ertragen. Die Konsequenz sind Hörschäden.
Anfang der 90er Jahre sorgte eine norwegische Untersuchung dafür, dass viele Experten die Ohren spitzten: Bis zu 36 % aller Wehrpflichtigen eines Jahrgangs wiesen bei threr Einstellungs-Untersuchung eine Hörverschlechterung auf. Die Hörminderung bestand im Hochton-Bereich in Form der sogenannten C5-Senke. Sie ist typisch für einen lärmbedingten Hörschaden. Eine Reihenuntersuchung der
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ergab: Ein Viertel aller jungen Männer zwischen 16 und 24 Jahren weist deutliche Hörverluste auf.
Techno mit dem Presslufthammer
Da die meisten Heranwachsenden noch nicht im Berufsleben stehen vermuten Experten den Grund für die zunehmende Schwerhörigkeit in ihrem Freizeitverhalten: dröhnende Diskobeats, lärmende Rekorder, aufgedrehte HiFi-Anlagen, frisierte Motorräder. Messungen in verschiedenen Berliner Diskotheken etwa ergaben einen gemittelten Dauerschallpegel von 102 Dezibel; das entspricht dem Krach eines Presslufthammers.
Fatalerweise spielt die Lautstärke für die persönliche Lärmbewertung aber kaum eine Rolle: Sie ist grösstenteils individuell und subjektiv.
Pegel bis zum Düsenjäger-Vergleich
Und ständig wird nachgeregelt: Im Schnitt hebt der DJ den Regler jede Stunde um 2 Dezibel an. Er gleicht so die einsetzende „Vertäubung“ aus. Auf einigen Dancefloors erreicht der Krach Düsenjäger-Qualität: „Da reicht eine Verweildauer von 24 Minuten, um die nach dem Arbeitsschutz zulässige Dosis für die ganze Woche auf die Ohren zu bekommen“, klagt
Dr. Hartmut Ising, Lärmexperte beim
Umweltbundesamt in Berlin. Nach einem ausgiebigen Disko- oder Konzert-Besuch schlägt das Gehör Alarm: 60 % der Jugendlichen berichten im Anschluss über einen Dauerton oder ein Rauschen im Ohr oder über eine zeitweise Vertäubung, das Gefühl von Watte im Gehörgang. Das Gewummer aus Lautsprecher-Boxen steigert das Tinnitus-Risiko ganz erheblich.
Risiko Rekorder
Auf die Hörfähigkeit wirkt sich der Lärm aber nur bei relativ wenigen Diskogängern aus. Als wesentlich ohrenschädlicher entpuppt sich das Abhören von tragbaren Kassettenrekordern. Die Lautstärke der tragbaren Rekorder erreicht schon mal Presslufthammer-Niveau. Wer dies noch mit Disko kombiniert, lebt besonders gefährlich: So vervierfacht sich das Risiko, schon in jungen Jahren dauerhafte Hörschäden davonzutragen.
Jungen, so scheint es, sind für die musikalische Betäubung empfänglicher. Vor allem wenn sie mit ihren schulischen Leistungen unzufrieden sind. Frustrationen und Probleme werden „weggedröhnt“. Haupt- und Real-Schüler reissen die Regler dabei häufiger und weiter auf als Gymnasiasten.
Der Dauerbeschuss mit hochenergetischen Schallwellen hat fatale Folgen für’s Innenohr: die Härchen der äußeren Haarzellen (Zilien) brechen wie Getreidehalme im Sommerhagel. Der Schall wirkt auf die feinen Zellen ebenso katastrophal wie ein künstlich erzeugter Sauerstoff-Mangel. Dabei sind reine Töne und schmalbandige Geräusche, zum Beispiel das hohe Kreischen einer Kreissäge, extrem belastend für einen eng umgrenzten Abschnitt des Innenohrs. Sie führen oft zu einer stärkeren zeitweiligen Hörschwellen-Verschiebung und schliesslich auch zu stärkerer Lärmschwerhörigkeit als Breitband-Geräusche gleicher Energie.
Achtung Kinderpistolen!
Noch verheerender wirkt offenbar „Impulslärm“: extrem laute, aber sehr kurze Schallereignisse, wie sie Silvesterböller, Spielzeug-Pistolen, aber auch »Knackfrösche« erzeugen. Kinderrevolver, direkt am Ohr abgefeuert, verursachen zum Teil Spitzenpegel über 170 Dezibel. Das ist weit mehr als jeder Bundeswehrschütze ertragen muss. Die Bedrohung durch Kinderspielzeug wird völlig unterschätzt. Die Folge: Ein einziger Schuss direkt am Ohr reicht, um es dauerhaft zu schädigen. Kinderspielzeug müsse dringend entschärft werden, fordert Lärmexperte Dr. Hartmut Ising. Er hofft auf eine
neue EU-Sicherheitsnorm, bei der auch die Gehörgefährdung mit einbezogen wird.
Kassettenlärm, Computerspiele
Beim Mini-Kassettengerät („Walkman“ / „Discman“) ist man schon ein Stück weiter. Deutsche Fachleute haben einen Normenentwurf vorgelegt, der den Schallpegel der Geräte auf 90 Dezibel begrenzen soll. Vergleichbare Grenzwerte fordern Umweltbundesamt und
Bundes-Ärztekammer – nach
Schweizer Vorbild – auch für Diskotheken und Musikveranstaltungen. Eine allgemeine Pegelbegrenzung auf 95 Dezibel sei ein wichtiger Schritt. Damit, so hat man beim Umweltbundesamt errechnet, liessen sich die Hörschäden infolge lauter Musik auf 1/10 reduzieren.
Computerspiele
Die Gefahr für die jungen Ohren ist damit aber keineswegs gebannt. Seit Computerspiele immer häufiger Einzug in die Kinderzimmer halten, wittert Dr. Hartmut Ising neue Gefahrenquellen. Doch die amtlichen Gesundheitsschützer werden kaum Gelegenheit haben, weiter zu forschen und gezielt aktuellen wie zukünftigen Entwicklungen des Lärms in Haus und Hof sowie neuen Lärmquellen nachzugehen: trotz zunehmender Bedeutung hat das Umweltbundesamt den „Freizeitlärm“ als Schwerpunkt seiner Arbeit aus finanziellen Gründen gestrichen.
test #10
Hört die Signale
Das Ohr ist mehr als nur die sichtbare Ohrmuschel. Die wichtigsten Teile des Hörorgans liegen verborgen im Inneren des Kopfes, geschützt vom härtesten Knochengebilde des menschlichen Körpers, dem Felsenbein. Ein kompliziertes Gefüge winziger Knochen, dünnster Häute und mit Luft und Flüssigkeit gefüllter Minihöhlen verstärken die Schallwellen aus der Aussenwelt. Im Innenohr leiten die 30’000 Haarzellen der nur erbsengrossen Hörschnecke die akustischen Signale als elektrische Impulse ins Gehirn.
Viele unterschiedliche Störungen dieses komplizierten Gebildes haben zunächst ähnliche Symptome: Ohrenschmerzen, Druckgefühl und Hörstörungen können Anzeichen banaler, schnell abklingender Beschwerden oder aber schwerer Erkrankungen sein. Daher ist es in den meisten Fällen ratsam, zum Arzt zu gehen, wenn die Beschwerden nicht nach wenigen Tagen nachlassen.
Akute Mittelohrentzündung
Die akute Mittelohrentzündung ist eine der häufigsten Infektionskrankheiten bei Kindern. Bis zum 3. Geburtstag haben fast 3/4 aller Kleinkinder zumindest 1 Mittelohr-Entzündung durchgemacht. 30 % sind bereits dreimal daran erkrankt. Die Diagnose stellt der Arzt nach einem Blick auf das gerötete, oft verwölbte Trommelfell.
Die sehr schmerzhafte, eiterige Entzündung entsteht meist infolge einer Erkältung, Entzündungen im Nasen-Rachen – Raum und nachfolgender Schwellung der Tubenschleimhaut. Die Belüftung des Mittelohrs ist gestört, der Schleim staut sich und die Erreger wandern vom Nasen-Rachen – Raum über die Ohrtrompete ins Mittelohr. Die besonders kurze und weite kindliche Tube begünstigt dies.
Behandelt wird die Mittelohr-Entzündung hierzulande mit einer sogenannten „kalkulierten Antibiotika-Gabe“. Dabei wird ein Antibiotikum verschrieben, das gegen die häufigsten Erregertypen (Pneumokokken und Haemophilus influenzae) wirkt. Abschwellende Nasentropfen und Inhalationen fördern darüber hinaus die Heilung. Spricht das Kind auf diese Therapie nicht an, kann der Arzt versuchen, mit einem kleinen Schnitt ins Trommelfell dem Eiter eine Abflussmöglichkeit zu schaffen. Dann kann er auch den bakteriellen Bösewicht identifizieren und, falls nötig, mit speziellen Antibiotika behandeln.
Charakteristisch für die akute Mittelohr-Entzündung ist die hohe Selbstheilungs-Rate. Da sich jedoch nicht prognostizieren lässt, bei welchem Kind die Selbstheilungskräfte versagen, geht man lieber auf „Nummer sicher“. Denn die Folgen können verheerend sein: Die häufigste Komplikation ist die sogenannte Mastoiditis, eine eitrige Entzündung des Warzenfortsatzes, einem luftgefüllten Raum im Schläfenbein, der mit dem Mittelohr verbunden ist. Ausserdem kann sich die Infektion im ganzen Körper ausbreiten und zu einer Entzündung des Innenohrs mit der Gefahr der Ertaubung führen, zur Gesichtslähmung oder zur Hirnhaut-Entzündung (Meningitis): deshalb empfiehlt die Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie nach wie vor die antibiotisch Therapie.
Chronische Mittelohrentzündung
Die chronische Mittelohrentzündung kann in jedem Lebensalter vorkommen. Das Trommelfell hat einen kleinen Defekt, durch den immer wieder Keime ins Mittelohr eindringen können. Die Entzündung verläuft jahrelang fast unmerklich. Nur ab und an kommt es zu akuten Schüben mit Schmerzen, Ohrlaufen und unterschiedlich stark ausgeprägter Schwerhörigkeit.
Man unterscheidet die chronische Schleimhaut-Eiterung von der chronischen Knochen-Eiterung (Cholesteatom). Bei der Schleimhaut-Eiterung besteht mitten im Trommelfell ein Loch. Da die Schleimhaut ständig entzündet ist und das Ohr ein eitriges Sekret absondert kann der Defekt nicht heilen, und um das Loch herum entsteht festes Narbengewebe. Meist bleibt der Krankheitsprozess auf das Trommelfell begrenzt. Er kann aber auch auf die Gehörknöchelchen übergreifen. Auf jeden Fall muss das Trommelfell repariert oder ersetzt werden. Bei der Knochen-Eiterung frisst die Entzündung sich langsam in den Knochen des Mittelohrs und der angrenzenden Schädelbasis vor. Im Laufe der Zeit wird auch das Innenohr zerstört. Der Arzt erkennt die Knochen-Eiterung häufig schon am stinkenden Geruch der aus dem Ohr abgesonderten Flüssigkeit. Die chronische Knochen-Eiterung muss schnellstmöglich operiert werden.
Tinnitus – der Hilfeschrei im Ohr
Knapp 3 Millionen Deutsche leiden unter Tinnitus. Jeder 2. erträgt die Geräusche im Ohr nur schwer oder gar nicht. Wegen der zunehmenden Lärmbelastung, vor allem in der Freizeit (Walkman, Disko), klagen auch immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene unter 30 Jahren über den Lärm im Ohr.
„Tinnitus ist ein Symptom, ähnlich dem Schmerz“ sagt Dr. Gerhard Goebel, Chefarzt der Psychosomatischen Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. „Wir behandeln nicht den Tinnitus, sondern die Krankheit, die ihn auslöst.“ Hunderte solcher Auslöser kennen die Mediziner heute. Meist, so vermuten Forscher, sind es die feinen Haar-Sinneszellen der Hörschnecke, die Schaden leiden und Tinnitus auslösen. Aus jenem erstaunlichen Organ im Innenohr, das den Schall in elektrische Signale umwandelt und so für unser Gehirn hörbar macht, kommt dann das Signal: „Hier stimmt was nicht!“ Die häufigste Ursache für den Hilfeschrei im Ohr ist Lärm: Die lange Nacht im Techno-Gewitter, ein verirrter Knallfrosch oder die tägliche Arbeit am Pressluft-Hammer können die Haarzellen mechanisch zerstören.
Häufig machen die Ärzte Durchblutungsstörungen für die Ohrgeräusche verantwortlich, ausgelöst durch Gefässveränderungen. Infolgedessen werden die Sinneszellen im Ohr nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Ursachen können Infektionen, Herz-Kreislauf – oder Stoffwechsel-Störungen sein. Bei jedem 10. beginnt der Tinnitus mit einem Hörsturz, dem teilweisen oder völligen Hörverlust mit bisher unklarer Ursache. Auch Veränderungen der Hals-Wirbelsäule oder Kiefer-Fehlstellungen können über Nervenverbindungen zur Hörbahn Tinnitus auslösen. Oft aber bleibt die Antwort auf das „Woher?“ verborgen – es dröhnt einfach los, kreischt und stampft und faucht ohne Ende.
Weil die Diagnose sehr umfangreich werden kann, wird beim „frischen“ Tinnitus gleichzeitig mit der medizinischen Therapie begonnen, denn hier gilt: Je früher, desto besser. Bereits nach wenigen Tagen sinkt die Heilungschance von anfänglich 90 %. Die gängige Akuttherapie beginnt mit Infusionen gefässerweiternder und die Fliesseigenschaft des Blutes verbessernder Mittel.
Sind Medikamente erfolglos bietet die
hyperbare Sauerstoff-Therapie noch für jene Patenten eine Chance, deren Tinnitus mit akuten Lärmschäden oder Hörschädigungen, etwa einem Hörsturz, verbunden ist. Die Patienten atmen in einer Druckkammer reinen Sauerstoff, den der Körper aufgrund des erhöhten Aussendrucks vermehrt aufnehmen kann. „Bei weiteren 60 % verschwinden die Geräusche danach“, sagt
Dr. Eberhard Biesinger, HNO-Arzt in
Traunstein. Tobt der Tinnitus dann immer noch, ist die Chance, ihn wieder ganz loszuwerden, nur noch gering – nach 6 Monaten gilt er als chronisch.
Jetzt ändert sich das Ziel der Therapie. Eine Heilung im Sinne vollständiger Beseitigung der Geräusche ist nicht mehr zu erwarten. Im Vordergrund steht vielmehr die Verbesserung der Lebensqualität, verbunden mit einer Gewöhnung an die lästigen Töne. Hier hat sich in den letzten Jahren die so genannte Retraining-Therapie als vielversprechend erwiesen, die meist ambulant auf mehrere Sitzungen über 2 Jahre ausgelegt ist.
Grundlage des Retrainings ist die Aufklärung über die psycho-akustischen Zusammenhänge des Tinnitus. Dieses Verständnis soll dem Patienten helfen, sich gedanklich von den Ohrgeräuschen zu lösen und seine Wahrnehmung so zu trainieren. dass er den Tinnitus überhört. Oft gelingt es, die Geräusche wieder ganz aus dem Bewusstsein zu blenden.
Unterstützt wird dieses Training häufig mit Rauschgeräten. Sie werden im Ohr getragen und erzeugen ein ständiges Rauschen, das leiser als der Tinnituston eingestellt ist. „Diese Teilmaskierung dient der Ablenkung, und die Konzentration auf das Rauschen führt langfristig zu einer Neuordnung im Hörsystem“, erläutert Dr. Biesinger. Ein Hörgerät erziele den gleichen Effekt durch bessere Wahrnehmung der Umweltgeräusche. Zugleich warnt Biesinger aber vor „dubiosen Therapieangeboten, die ausschliesslich mit Geräten behandeln.“
Basis des Retrainings sei die ärztliche und psychologische Beratung sagt auch Dr. Goebel. Dazu zählt der Abbau tinnitusbedingter Stressreaktionen wie Schlaf- oder Konzentrations-Störungen ebenso wie die Hilfe bei sozialen Problemen und körperlich-seelischen Störungen wie Angst oder Depressionen. Oft sind es diese Folgesymptome, die das Leben unerträglich machen. Hier kann eine ambulante Psychotherapie sinnvoll sein. Aber auch Entspannungstechniken können schon helfen, ebenso wie alternative Heilmethoden, etwa Akupunktur bei Schlafstörungen.
„Wenn Patienten erhebliche Depressionen oder Ängste haben, oft verbunden mit körperlichen Störungen, ist ein stationärer Aufenthalt ratsam“, empfiehlt Goebel. Für 1 – 2 % der Betroffenen hält er einen 6-wöchigen Aufenthalt für notwendig. „Die Klinik sollte über eine eigene Abteilung für Tinnituspatienten verfügen und Erfahrung mit deren psychosomatischer Behandlung aufweisen.“ Auch ein ORL-Arzt sollte an der Behandlung beteiligt sein.
Hörsturz
Es trifft die meisten wie aus heiterem Himmel. Ohne Vorwarnung und von einer Sekunde zur nächsten macht eins der Ohren dicht: Hohe oder tiefe Töne werden nicht mehr wahrgenommen, Druck ist spürbar, es klingelt, knattert, rauscht. Schnellstmöglicher Besuch beim Hals-Nasen-Ohren – Arzt ist angesagt, denn der plötzlich auftretende Hörsturz gilt als Dringlichkeitsfall. Zwar ist die Spontanheilungs-Rate hoch, doch im Voraus ist nicht absehbar, ob sich das Ohr auch ohne Hilfe erholt. Deshalb sollten Diagnostik und vor allem Therapie umgehend eingeleitet werden. Nur dann bestehen gute Chancen für die Erholung des Hörvermögens.
Jährlich erleiden in Deutschland 15’000 Menschen einen Hörsturz. Mehr als die Hälfte der Fälle treten zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr auf, ein Häufigkeits-Gipfel besteht um das 50. Lebensjahr. Doch ähnlich wie beim Tinnitus werden die Patienten immer jünger.
Die Ursachen für die plötzliche Hörminderung sind noch nicht geklärt. Diskutiert, aber nicht eindeutig bestätigt wird ein möglicher Zusammenhang mit Virusinfektionen, Autoimmun-Defekten, Halswirbel- und Kiefer-Fehlstellungen, zu hohen Cholesterin- und Blutfett-Werten, Bluthochdruck. Aber auch ständige Lärmbelastung oder seelische Überforderung in Beruf und Beziehung stressen das sensible Sinnesorgan, das mit Hörsturz reagieren kann.
Auch wenn die eigentlichen Ursachen noch im Dunkeln liegen: Auslöser des Hörsturzes sind wahrscheinlich Durchblutungs-Störungen, die die Haarzellen im Innenohr in Sauerstoff-Not bringen. Bei unterbrochenen Blutfluss versagen die auf die Wahrnehmung von Schwingungen spezialisierten Zellen ihren Dienst.
Die Therapie ist fast identisch mit der des akuten Tinnitus: Infusionen mit blutverdünnenden Mitteln, zum Teil mit gefässerweiternden Wirkstoffen und auch zusätzlicher Kortisongabe (etwa bei stark ausgeprägten Hörverlusten) sollen das Blut auch in den winzigen Gefäßen und damit die Versorgung des Ohrs wieder in Fluss bringen. Wobei – je nach Arzt oder Krankenhaus – unterschiedliche Wirkstoff-Kombinationen verabreicht werden. Eine Standardtherapie gibt es noch nicht.
Einigkeit hingegen besteht über die Dauer der Behandlung: Angesetzt werden in der Regel 10 Tage – unabhängig, ob die Infusion ambulant in der Arztpraxis oder stationär im Krankenhaus erfolgt. Der stationäre Aufenthalt wird von vielen HNO-Ärzten empfohlen. Bei der ambulanten Versorgung in der Arztpraxis kann der Patient höchstens 1 – 2 Stunden am Tropf hängen. Günstiger scheint jedoch eine längere Verweildauer von 8 – 16 Stunden. Positiv wird auch der Abstand zu beruflichen oder persönlichen Stress-Situationen bewertet. Eine weitere Behandlungsmethode ist die Therapie mit hyperbarem Sauerstoff.
Insgesamt bestehen gute Aussichten für den Hörsturz-Patienten: Immerhin gesunden 80 – 90 % aller Betroffenen wieder völlig. Bei weiter bestehender Hörminderung oder Ohrgeräuschen kann eine Langzeit-Therapie über 3 – 4 Monate mit durchblutungs-fördernden Tabletten sinnvoll sein. In Einzelfällen erholte sich das Gehör noch nach Monaten.
Etwa 7 – 9 % der Patient:innen erleben erneut den Alarm aus dem Ohr. Spätestens dann sollte das Signal für eine Lebensumstellung gehört werden. Banal, aber wahr: Wer zuviel um die Ohren hat gefährdet seine Ohren!
„Altersschwerhörigkeit“
Zwitschernde Vögel oder das Klingeln an der Haustür sind Geräusche, die viele Senioren nur noch mit Mühe hören können. Etwa 1/3 der über 65-jährigen weist einen symmetrischen Hochton-Verlust auf beiden Ohren auf, schätzen Mediziner. Altersschwerhörigkeit ist der Fachbegriff für die schleichend verlaufende Erkrankung.
Senioren haben deshalb Schwierigkeiten, Konsonanten wie „f“ und „s“ oder „d“ und „t“ zu unterscheiden. Sie haben auch ein verändertes Lautheits-Empfinden. Töne und Geräusche mit niedrigem Schallpegel hören sie oft nicht mehr. Höhere Schallpegel empfinden sie dagegen schnell als zu laut. Mit zunehmendem Alter fällt es den Betroffenen schwerer, die räumliche Lage einer Schallquelle zu orten. Und wer im trauten Zwiegespräch noch alles mitbekommt, hat oft in Gruppen oder bei Nebengeräuschen (zum Beispiel Altenheim, Bahnhof, Restaurant) Probleme.
„Die Altersschwerhörigkeit ist die unterschätzte Belastung des Alters“, sagt Dr. Clemens Tesch-Römer vom Deutschen Zentrum für Altersfragen e.V. in Berlin. Die Ursachen der Erkrankung liegen immer noch im Dunkeln. Man vermutet, dass es sich nicht nur um altersbedingte Veränderungen im Innenohr, sondern auch in den Nervenbahnen und hörverarbeitenden Bereichen des Gehirns handelt. Sicherlich geht auch die Summe der lebenslangen Belastungen aus Lärm, Krankheit und Medikamenten nicht spurlos an den Ohren vorbei. Aufhalten lässt sich die Altersschwerhörigkeit nicht und vorbeugen kann man auch nicht. Trotzdem sollte man die Lärmbelastung des Ohrs so gering wie möglich halten.
Hörgeräte könnten den Betroffenen das Leben erleichtern. Doch nur rund 20 % der Altersschwerhörigen besitzen überhaupt ein solches Gerät. Und besitzen bedeutet noch lange nicht einsetzen: Viele Hörhilfen werden lieber in der Nachttisch-Schublade verwahrt als im Ohr getragen.
Doch mit der rein technischen Hörgeräte-Versorgung ist es nicht getan. So fordern Fachleute und Betroffene eine umfassende „aurale Rehabilitation“, die zwar auch den Umgang mit der Hörhilfe lehrt, vor allem aber in das „neue Hören“ einführt. Sonst besteht weiterhin die Gefahr, dass die teuren Geräte auf „nimmer Wiederhören“ in der Nachttisch-Schublade verschwinden.
test #11
Wieder ganz Ohr
Wenn die Gehörknöchelchen im Mittelohr zerstört sind oder ihre Beweglichkeit verlieren können Chirurgen das Hörvermögen mit kleinen Prothesen retten.
Beatles und Beethoven, Gebrüder Grimm und Goethe, Nebelkrähe und Nachtigall – dem Ohr ist alles gleich. Es verwandelt den Schall in Schwingungen, die wiederum eine wellenartige Bewegung von Lymphflüssigkeit auslösen. So werden die Haarzellen gereizt, die die Signale über den Hörnerv ins Gehirn weiterleiten. Hier filtert das Hörzentrum die feinen Unterschiede heraus: In Bruchteilen von Sekunden unterscheidet es zwischen Vogelgezwitscher, einem tropfenden Wasserhahn und einem Symphoniekonzert.
Das Mittelohr mit den Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel übernimmt hierbei eine entscheidende Vermittler- und Verstärker-Rolle. Dabei misst die luftgefüllte Höhle vom Trommelfell bis zum Knochen des Innenohrs gerade mal 6 Millimeter. Die Gehörknöchelchen – die kleinsten Knochen im menschlichen Körper – sind mit winzigen Sehnen befestigt und durch Gelenke miteinander verbunden. Ihre Schwingungsfähigkeit wird durch kleine Muskeln reguliert.
Auf Störungen wie beispielsweise Verletzungen, Entzündungen oder Beschädigungen reagiert das empfindliche Organ mit Hörverlust. Je gravierender die Schwerhörigkeit, je länger sie dauert und je stärker sie zunimmt, umso mehr sind die Betroffenen von der Welt abgeschnitten, in ihren sozialen Kontakten eingeschränkt. Doch die Einsamkeit muss nicht sein. Heute können Menschen mit Hörproblemen oft erfolgreich operiert werden – vor allem bei Krankheiten im Mittelohr.
Das Mittelohr ist besonders durch chronische Entzündungen gefährdet: Die chronische Schleimhaut-Eiterung zerstört nach und nach das Trommelfell und kann auch auf die Gehörknöchelchen übergreifen. Bei der chronischen Knochen-Eiterung frisst sich die Entzündung langsam in den Knochen des Mittelohrs und der angrenzenden Schädelbasis vor. Die Erkrankung schreitet fort und kann nicht durch Medikamente geheilt werden. Betroffen sind viele Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene.
In früheren Jahrhunderten wurde der Knochen aufgemeisselt, um die Entzündung auszuräumen und den Eiter abfliessen zu lassen. Dadurch wurde die akute Lebensgefahr beseitigt. Am Ende des Zweiten Weltkriegs stand dann Penicillin zur Verfügung. Doch erst in der 50er-Jahren fand der entscheidende Schritt zur Wiederherstellung des verlorenen Hörvermögens statt: die zerstörten Knöchelchen wurden durch klitzekleine Prothesen ersetzt. Der hierzu notwendige Einsatz von Operations-Mikroskopen und speziellen Instrumenten eröffnete das Zeitalter der Mikrochirurgie.
Mini-Prothese
Die Tympanoplastik – die Wiederherstellung der Schallleitung im Mittelohr – ist nunmehr bereits seit Jahrzehnten eine der häufigsten Operationen in der Ohrchirurgie. Bei der einfachsten Variante wird ein Riss im Trommelfell, der nicht von allein heilt, mit einem Gewebestückchen repariert. Das dünne, elastische Trommelfell hat einen Durchmesser von ungefähr 1 Zentimeter und kann auch vollständig erneuert werden. Hierzu sind Muskel- und Knorpel-Haut geeignet. Wenn die Gehörknöchelchen in Mitleidenschaft gezogen sind, werden 2 von ihnen oder sogar alle 3 durch eine Mini-Prothese ersetzt, die maximal 6 Millimeter lang ist.
„Die Suche nach geeigneten Materialien, die vom Körper nicht abgestossen werden, hat fast 20 Jahre gedauert“, so Prof. Dr. med. Hans Peter Zenner, Leiter der Universitäts – HNO-Klinik Tübingen. Zuerst transplantierten die Chirurgen die Gehörknöchelchen Verstorbener. Dann nutzten sie Keramiken, deren chemische Eigenschaften denen der Knochen ähnlich sind. Erste Goldprothesen wurden zusammen mit Zahntechnikern entwickelt. Seit etwa 5 Jahren wird auch Titan ins Mittelohr eingesetzt. „Eine technische Herausforderung“, so Professor Zenner, „denn die Prothesen müssen so filigran gestaltet sein, dass der Chirurg während der Operation die feinen Strukturen im Mittelohr sehen kann. Ausserdem musste mithilfe eines mathematischen Modells errechnet werden, wie der Schall optimal übertragen wird.“ Heute weiss man: je härter und leichter das Material, desto besser leitet es die Schwingungen weiter.
Stapesplastik heisst der Eingriff, wenn nur eines der Gehörknöchelchen, nämlich der Steigbügel, ganz oder teilweise durch eine Prothese ersetzt wird. Das ist eine der erfolgreichsten Operationen überhaupt. Sie kann bei einer Knochenwucherung im Mittelohr, der Otosklerose, notwendig werden. Im Verlauf der Erkrankung verknöchert die Fussplatte des Steigbügels. Sie kann dann nicht mehr schwingen und den Schall vom Mittelohr ins Innenohr weiterleiten. Manchmal dehnt sich der Krankheitsprozess auf das Innenohr und die Hörschnecke aus. Häufig betroffen sind Frauen im mittleren Alter, oft auch während oder nach einer Schwangerschaft.
Bohrer und Laser
Bei der Operation wird der obere Teil des Steigbügels abgetrennt und in die etwa 1,5 x 3 Millimeter grosse Fussplatte ein Loch von 0.5 Millimeter Durchmesser gebohrt. Dort wird eine Prothese eingesetzt. Sie schließt die Lücke in der Gehörknöchelchen-Kette und übernimmt die Funktion der Schallübertragung. Meist besteht der künstliche Steigbügel aus Platindraht – er wird um den Amboss gewickelt – und einem Teflonstempel. Dieser Stempel wird in die Fussplatte eingelassen.
Der klassische chirurgische Eingriff erfolgt mit einem Mikrobohrer. Doch zunehmend setzt sich auch der Laser als Operationsinstrument durch. „Er arbeitet präzise, berührungslos und verbessert die konventionelle Chirurgie“ sagt Privatdozent
Dr. Sergije Jovanovic vom Berliner Universitätsmedizin Berlin – Charité Campus Benjamin Franklin. Dort wird bei Otosklerose inzwischen nur noch mit einem CO2-Laser operiert. „Der Hörgewinn ist für den Patienten so gut wie beim Standardeingriff“, so Dr. Jovanovic. Andere Kliniken, wie zum Beispiel das
BG Unfallkrankenhaus Berlin oder das
Universitätsklinikum Tübingen, nutzen neben der klassischen Operationstechnik den ausschliesslich für’s Mittelohr entwickelten Erbium: YAG-Laser.
Mehrere Klinken nehmen das Mittelohr weiter unter die Lupe. Mediziner, Mechaniker und Materialkundler arbeiten an der Verfeinerung von Operationstechniken und Implantaten. In
Tübingen etwa setzt man unter anderem auch auf den Laser. Mit ihm kann man winzige Löcher in die Knöchelchen bohren und dort die Prothesen besser als bisher befestigen. Verbesserungen durch Lasereinsatz verspricht sich Professor Zenner in Zukunft zum Beispiel bei neuen Steigbügel-Prothesen. Die
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden entwickelt in ihrem „Mittelohr-Labor“ Prothesen, bei denen ebenfalls die Ankopplung der künstlichen an die natürlichen Hörknöchelchen und damit die Schallübertragung verbessert werden soll. „Da die Vibrationen im Mittelohr selbst bei lauten Geräuschen unsichtbar klein sind und weniger als einen Mikrometer betragen“, so
Professor Karl-Bernd Hüttenbrink, Direktor der
HNO-Klinik und Poliklinik, „erfordert das einen hohen gerätetechnischen Aufwand, der nur durch eine Kooperation von Ingenieuren und Ohrchirurgen möglich ist.“
Ein grundsätzliches Problem bleibt vorerst allerdings bestehen: Mit der Operation werden nur die Symptome der Erkrankung behandelt. Die Ursachen kennt man zum Teil gar nicht. Wahrscheinlich funktioniert bei der chronischen Mittelohr-Entzündung die Belüftung des Mittelohrs durch die Tube nicht richtig. Warum das aber so ist wissen die Mediziner bis heute nicht. Und so kann es auch nach der Operation zu erneuten Entzündungsprozessen kommen.
test #12
Pleiten, Pech und neue Chancen
Viele Nutzer von Hörgeräten sind unzufrieden und legen ihre Hörhilfen schon mal beiseite – auch teure Modelle. Eine Leserumfrage zeigt: oft mangelt es an Informationen und wichtige Tests unterbleiben einfach.
»Hören wie früher« versprechen die Hersteller von Hörgeräten. Oder: »Da werden Ihre Ohren Augen machen.« Haben sich schlecht Hörende mit ihrem kleinem Helfer erst einmal arrangiert stellt sich wieder Lebensfreude ein – verspricht die Werbung.
test wollte wissen, ob das stimmt und hat im Mai eine Umfrage gestartet. „Wie sind Ihre Erfahrungen mit Hörgeräten?“ fragten wir: 1’245 Leser:innen – überwiegend Männer – füllten den umfangreichen Fragebogen aus. Der Kauf des ersten Hörgeräts sollte nicht allzu lange zurückliegen und damit noch gut in der Erinnerung haften. Nur knapp 1/3 der Träger von Hörgeräten, die antworteten kann das Hören wieder geniessen. Lediglich die Hälfte der Befragten war mit Passsitz, Einstellung und Bedienung der Hörgeräte rundum zufrieden. Nur jeder 2. trägt die „Ohrstöpsel“ den lieben langen Tag, jeder 10. gelegentlich. 6 % haben ihr Gerät enttäuscht weggepackt. Vor allem störende Hintergrundgeräusche verdarben die Lust am Hören.
Die neue Umfrage fällt in eine Zeit des Umbruchs: Die volldigitale Hörgeräte-Technik lässt Schwerhörige hoffen. Auch die Preise sind in Bewegung. Neue Händler und Versender machen den alteingesessenen Druck. Die bislang hohen Preise werden vermutlich in Kürze auf breiter Front purzeln.
Schubladengeräte
Bis jetzt bestätigt unsere Umfrage aber erst einmal noch das, woran die Branche schon lange krankt: Hörhilfen sind häufig Geräte für die Nachttisch-Schublade – zu viele werden dort ab-, und manchmal endgültig weggelegt. Und das trotz vieler technischer Neuerungen in den letzten Jahren, die den Hörkomfort verbessert haben. 4 – 5 Millionen Menschen sollten ein Hörgerät tragen. Doch die Praxis ist anders: Schätzungen gehen lediglich von 1.6 – 2.9 Millionen Hörgeräte-Trägern aus. Im Unterschied zur Brille hat das Hörgerät ein schlechtes Image.
Die Umfrage zeigte auch: Fast 2/3 der Verwender von Hörgeräten sind 60 bis über 80 Jahre alt. Bei den über 65-jährigen hat jeder 3. Hörprobleme. Und immer mehr Jüngere und Menschen mittleren Alters haben heute bereits eine Hilfe hinter- oder im-Ohr. Ein Hörgerät soll dabei möglichst klein und wenig sichtbar sein – das ist der am häufigsten geäusserte Wunsch beim 1. Kauf.
Hörgeräte sind zunächst Rohprodukte. Sie werden auf die individuelle Hörstörung und das subjektive Empfinden des Klienten „zugeschnitten“. Nur dann können sie ihm wieder die Ohren öffnen. In der Regel ist die Hörqualität aber nicht dem natürlichen Hören gleichzusetzen, obwohl die Hersteller mit Begriffen wie „HiFi“- und „CD-Qualität“ werben. Soll die Hörgeräte-Versorgung erfolgreich sein, kommt es zunächst auf Folgendes an: eine exakte Messung des Hörverlusts, ausreichende Information und Beratung, die Möglichkeit des Probehörens, Einweisung in – und Übung mit dem Gerät. In der Praxis allerdings – das zeigen die Antworten unserer Leser – fehlt es offenbar gerade in diesen Punkten häufig an der erforderlichen Sorgfalt. Dabei veranschlagt
Klaus Klingbeil, Ex –
Innungs-Obermeister, 15 Stunden für den gewöhnlichen Ablauf einer Anpassung und Nachsorge.
Messen als Massstab
Der Gehörverlust bestimmt die ärztliche Indikation. Voraussetzung für eine erfolgreiche Korrektur durch den Arzt oder Akustiker sind Ton- und Sprach-audiometrische Messungen. Eine zentrale Rolle spielt das Erfassen der Sprachwahrnehmung. Erstaunlich: Bei 13 % der Befragten unterblieb diese Prüfung via Tonband oder CD. Obwohl für die Verordnung zwingend erforderlich verzichtete knapp 1/3 der Ärzte auf den standardisierten Sprachtest wie auch 12 % der Hörgeräte-Akustiker. Der Flüstertest – Arzt oder Arzthelferin flüstern Zahlen, sprechen Sätze – reicht nicht aus. Er zeigt lediglich, in welchem Abstand noch verstanden wird (Hörweite).
Aus Sicht der Krankenkassen, die eine Versorgung finanzieren, ist der HNO-Arzt verantwortlich für die ordnungsgemässe Anpassung durch den Hörgeräte-Akustiker: Erst wenn der Arzt den Hörgewinn zum Beispiel durch Sprach-audiometrische Untersuchungen bestätigt gibt es für das Akustikgeschäft Geld von der Kasse.
Wichtig: Probetragen
Vor der endgültigen Kaufentscheidung sollten stets mehrere Hörgeräte ausprobiert werden. Angepasste Geräte, die den Hörfehler ausgleichen, können individuell trotzdem als unangenehm empfunden werden – zum Beispiel durch ihre speziellen Klangeigenschaften.
Die Betroffenen können beim Ausleihen ebenfalls testen, ob die teuren High-Tech – Geräte (zum Beispiel die neuen volldigitalen), für die sie mehr zuzahlen müssen, in vertrauten Situationen tatsächlich so viel mehr bringen als preiswerte (analoge) Modelle.
HNO-Ärzte empfehlen, 3 – 4 Geräte jeweils eine Woche oder länger im Alltag zu prüfen. Einige Akustiker gewähren eine Probezeit von 1 – 2 Monaten.
Immerhin konnten etwa 80 % der mit einem Hinter-dem-Ohr – Gerät versorgten Leser, die unseren Fragebogen ausfüllten, unterschiedliche Modelle ausprobieren. Bei denen, die ein Im-Ohr – Gerät tragen waren es jedoch weniger als die Hälfte. Das ist aber nicht unbedingt ein Manko: Denn bei den Kleinst-Hörhilfen direkt im Ohrgang ist die gesamte Technik in einer individuell angefertigten Schale untergebracht. Diese sogenannten Custom-made – Geräte sind massangefertigte (Gehäuse-)Unikate. Per Computer können viele Parameter verändert werden. Häufig ist deshalb auch ohne Wechsel des Hörgeräts ein optimales Ergebnis zu erreichen.
Rückgaberecht
Wer mit seiner massgeschneiderten Hörhilfe nicht glücklich ist, hat das Recht, sie zurückzugeben. Erstaunlich ist, dass sich der Kunde in jedem 10. Fall beinahe sofort für ein Gerät entscheiden musste. Es blieb kaum Zeit, zur vergleichen, auszuwählen und sich mit einem Hörgerät zu arrangieren. Dieses Ergebnis entspricht nicht der von Akustikern in der Werbung stets beanspruchten hohen Qualität der Hörgeräte-Anpassung. Ausserdem ist die „vergleichende Anpassung“ ausdrücklich im Festbetrag enthalten.
Nur jeder 2. Nutzer fühlte sich bei der Einweisung in den Gebrauch der Hörhilfe gründlich betreut und ist auf mögliche Probleme hingewiesen worden. Das störende Rückkopplungs-Pfeifen nervte jeden 2., lästige Hintergrund-Geräusche, die das Verstehen erschweren, verärgerten fast 2/3 der Befragten.
Auf Infos hören
Bessere Informationen hätten die Erwartungen der Kunden dämpfen können: Ein einfaches Hörgerät verstärkt unterschiedslos alle Geräusche und Töne und unterscheidet nicht ausreichend zwischen Nutzschall (Sprache) und Störschall (Hintergrund-Lärm). Diese Handicaps sind bislang auch mit neuester Technik nur begrenzt und in akustisch einfachen Situationen zu lösen. In der typischen „Cocktail-Party – Situation“ gibt es laut Auskund der Befragten keinen Durchbruch, nicht einmal eine als „ausreichend“ empfundene Verbesserung des Sprachverstehens.
Auch beim unangenehmen Rückkopplungs-Pfeifen kann mehr Information Abhilfe bringen. Ein nicht mehr passendes Ohrstück oder ein verkantetes Einsetzen des Stöpsels, zu grosse Lüftung oder ein zu kleiner Abstand können die Ursache sein. Das Pfeifen kann beim Annähern an einen Telefonhörer oder durch andere „Hindernisse“ auftreten. Ausserdem pfeift es, wenn der Verstärkungsregler zu weit aufgedreht wird.
Grenzen akzeptieren
Tatsache bleibt: Die Leistungsfähigkeit des gesunden Ohrs kann von keiner technischen Hilfe ersetzt werden – auch wenn die Werbung das suggeriert. In aller Regel muss der Träger eines Hörgeräts akzeptieren, dass es ihn bei wechselnden Situationen nicht immer optimal unterstützen kann – und manchmal sogar eine Belastung ist: so bei starken Hintergrund-Geräuschen, zum Beispiel auf dem Rummel. Solche Einschränkungen machen sich um so eher bemerkbar, je grösser der Hörverlust ist. „Das Hörgerät ist nur eine Krücke und kein Ersatz für normales Hören“, hat ein Leser geschrieben, aber für mehr Lebensfreude sorgt es dann doch: „Ich bin froh, dass es dieses Hilfsmittel gibt. Man ist wieder dabei.“ Ein anderer Leser: „Musik ist wieder ein Hochgenuss, vor allem bei hohen Frequenzen.“
Preisbrecher und Prozesse
Die Reihen geschlossen: Das scheint das Motto von Hörgeräte-Akustikern und Herstellern bei der Preisgestaltung zu sein. Vermutlich nicht mehr lange.
Ein Leser fand einen Berliner, bei dem er 2 Hörgeräte zum Kassen-Festbetrag erhalten sollte. Ein anderer Akustiker hatte für dieselben Modelle einen Eigenanteil des Kunden von 2’700 Mark kalkuliert: Die Hersteller von Hörgeräten verweisen darauf, dass Hörgeräte-Akustiker in der Preisgestaltung freie Hand haben – und schweigen über ihre Abgabepreise. Der Zuschlag der Hörgeräte-Akustiker auf den Hersteller-Abgabepreis soll beim 3.5- bis 4-fachen liegen.
Im Schnitt 2’000 Mark
Nach einer Statistik der Bundesinnung der Hörgeräte-Akustiker betrug 1998 der Durchschnitts-Preis für ein Hörgerät 1’970. Mark. Das macht für den Kassenpatienten nach Abzug des Festbetrags (zwischen 720 und 995 Mark) einen durchschnittlichen Privatbeitrag von 1’000 Mark pro Ohr aus. Bei High-Tech – Geräten kann der Eigenanteil schnell auf mindestens 6’000 Mark für eine beidohrige Versorgung anwachsen.
Vergleiche zwischen den Anbietern sind für die Kunden kaum möglich. Preislisten mit aufgeschlüsselten Kosten für Gerät und Dienstleistung sind in der Branche nicht üblich.
Mehr Wettbewerb
Künftig will der DSB Bewegungen in den Preiswettbewerb bringen und die Preisspannen transparent machen. Mitglieder und Betroffene sind aufgerufen, Rechnungskopien für den Gerätekauf ab 1997 (mit genauer Angabe des Hörgerätemodells) an den DSB zu schicken. Die Aktion ist unbefristet. Heinz Hepp, Leiter des Technikreferats beim DSB, sammelt bereits.
Preisbrecher wildern schon in den Jagdgründen. Es geht um den so genannten verkürzten Versorgungsweg – er macht einen Bogen um den niedergelassenen Hörgeräte-Akustiker. Zwei Firmen – Sanomed und auric – beliefern im Direktvertrieb Ärzte (mittlerweile an die 1’000) mit Geräten zum Nulltarif oder nur geringen Zuzahlungen. So geht’s: Der HNO-Arzt macht die Hörverlust-Messungen, den Ohrabdruck, passt das fertige Hörgerät an. Bei der Firma auric erfolgt die Feinanpassung ihrer digital-programmierbaren Geräte online.
10 % Marktanteil haben die beiden alternativen Firmen bereits – und zahlreiche Prozesse von Mitbewerbern am Hals. Das erinnert an die Anfänge von Brillen-
Fielmann.
Finanzfragen
Über 90 % aller Hörgeräte werden zum Teil von der gesetzlichen Krankenkasse finanziert. Für die etwa 2’000 im Hilfsmittel-Verzeichnis gelisteten Hörhilfen bezahlen die Kassen Festbetrage, die abhängig von technischen Merkmalen und definierten Hördefiziten – im Schnitt zwischen 720 und knapp unter 1’000 Mark liegen.
Meist muss der Patient draufzahlen – vor allem für Geräte mit besonderem Komfort oder für die neuen volldigitalen Hörsysteme. Sie werden jetzt verstärkt bei Hörgeräte-Akustikern beworben.
300 Millionen dazugezahlt
1998 gaben die Kassen rund 668 Millionen Mark für die Hörgeräte-Versorgung aus, mindestens 300 Millionen Mark kamen noch einmal aus privaten Taschen dazu. Denn in der Regel sind vor allem schwer Hörgeschädigte nicht mit Kassen-sätzen und -geräten zufriedenstellend zu versorgen. Härtefall-Regelungen gibt es nicht.
Für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahre gelten vertraglich vereinbarte höhere Preise. Auch Batterien werden für diese Altersgruppe bezahlt. Nach 5 Jahren besteht ein Anspruch auf ein neues Hörgerät, für Erwachsene erst nach 6 Jahren.
Versicherte bei Privatkassen bekommen in der Regel die volle Kaufsumme erstattet – das hängt von den vereinbarten Tarifen ab. Andere Kostenträger treten eher selten auf. Es können Berufsgenossenschaften sein – falls sie bei Unfällen mit Hörverlust haftbar gemacht werden.
test #1
Immer kleiner, immer besser?
US-Präsident Bill Clinton hat eins, Entertainer Rudi Carell geht mit zwei Hörhilfen durchs Leben. Elektronische Winzlinge bieten heute vielen Schwerhörigen Riesenmöglichkeiten. In den Werbeversprechen, vor allem in den Preisen, steckt aber noch zu viel Phantasie.
Alle mal herhören: Es ist an der Zeit, sich vom angestaubten Image hässlicher Hörgeräte hinter alten Ohren zu verabschieden. Angeboten wird eine neue Generation leistungsstarker Kleinformate. Viele Schwerhörigkeiten sind schon mit kaum sichtbaren Minigeräten im Gehörgang zu versorgen. Das führt – neben den meist besseren klanglichen Eigenschaften – zu einer wesentlich grösseren Akzeptanz bei den Schwerhörigen.
Schwerhörige Kinder brauchen für ihre Sprach- und geistige Entwicklung eine optimale „mitwachsende“ Versorgung hinter dem Ohr. Viele junge Leute können heute ebenfalls verbesserte elektronische Hilfsmittel zum Hören nutzen, zum Teil im modischen Design.
Etwa jeder 3. Träger eines Hörgeräts ist älter als 65 Jahre und mit der bisherigen Versorgung häufig unzufrieden. Auch dieser Gruppe könnte in vielen Fällen geholfen werden. Denn durch Weiterentwicklung der Elektronik und Digitaltechnik ist es zu grossen Fortschritten gekommen: Mit modernen Hörgeräten können viele Schwerhörige am normalen Leben teilnehmen. Zahlreiche schwerhörige Kinder und Jugendliche, die noch vor Jahren in Schwerhörigen-Schulen gehen mussten, können jetzt eine Regelschule besuchen – und sie erfolgreich abschliessen. Menschen im Beruf haben die Chance, sich zu behaupten. Auch viele ältere Schwerhörige, die sich mit ihrem Schicksal bereits abgefunden hatten, können ihren Alltag besser hörend erleben.
Bei gehörlosen oder höchstgradig schwerhörigen Kindern ist die Versorgung mit einem Cochlear Implant, einer implantierbaren „Hör-Prothese“, die einen Höreindruck durch direkte elektrische Reizung der Hörschnecke vermittelt, zum Beispiel schon ab dem 2. Lebensjahr in Erwägung zu ziehen: Sie eröffnet ihnen die Chance der Sprachentwicklung und bewahrt sie vor Taubstummheit. Bei mittel- und leicht-gradig schwerhörigen Kindern, deren sprachliche und intellektuelle Entwicklung wesentlich vom Gehör bestimmt wird, sollen Verbesserungen bei der Rausch-Unterdrückung und dem Erkennen von Sprache nahezu normales Hören ermöglichen.
Neueste Entwicklungen der Hörgeräte-Technik sind teure teil- und voll-implantierbare Modelle. Mit ihnen werden – zur Zeit noch in Sonderfällen oder zur Erprobung – Hörverluste durch eine direkte Schallübertragung auf die Gehörknöchelchen des Mittelohrs ausgeglichen.
Trotz alledem – es gibt Grenzen: Nicht allen Situationen werden die „Minis“ gerecht. Auch digitale Hörgeräte können Sprache bei starken Umgebungs-Geräuschen („Cocktail-Party – Effekt“) oft nicht zufriedenstellend herausfiltern. Dass ein Hörgerät das Gehör optimal wiederherstellen könnte, bleibt noch Zukunftsmusik. Kritische Stimmen sprechen bei subjektiven Vergleichstests mit volldigitalen Geräten gelegentlich sogar von erwartungsbedingten „Placeboeffekten“.
Kunden sollten deshalb nicht zu sehr auf die Werbeversprechen (»CD-Qualität«, »Hochleistungs-Computer«) bauen. Letztlich entscheidet der kritische persönliche Eindruck bei verschiedenen Hörsituationen. Deshalb sollte jeder Betroffene das Hörgerät gründlich ausprobieren.
Objektiver Vergleich schwierig
Hörgeräte sollen vor allem auch das Richtungsgehör und das selektive Gehör unterstützen. Beide Funktionen können durch eine beidohrige (binaurale) Hörgeräte-Versorgung bei hörgestörten Ohren besser erreicht werden. Sie ermöglicht ein deutlich besseres Sprachverständnis.
Zu beachten ist: Ein Hörgerät ist stets nur so gut wie seine Eignung für die individuelle Hörstörung in der Praxis. Ein technisch-physikalischer Vergleich von Hörgeräten ist schwierig. Die Zweckmässigkeit eines Hörgeräts wird in der Regel durch normierte Sprachverständnis-Tests und Standardsituationen überprüft. Darüber hinaus ist nichts verlässlich. Schwerhörige erhoffen sich von ihrem Hörgerät die optimale Funktion des Gehörs. In vielen Fällen bleibt das aber ein Traum – trotz aller neuen Technik. Vor allem bei den modernsten Hörgeräten fällt den Experten ein objektiver Vergleich schwer – zum Beispiel zwischen sehr guten automatischen analogen 2-Kanal – Geräten und digitalen Hörgeräten. Oftmals sind subjektive Vergleiche vom Preis des Geräts oder der Werbung so beeinflusst, dass mit Sicherheit nicht gesagt werden kann, welches Hörgerät vom medizinischen Standpunkt das bessere ist. Auch deshalb ist der subjektive Eindruck beim Hörvergleich wichtig.
Die Volldigitalen
Digitale Hörgeräte sind zur Zeit in der Regel noch etwa 3’000 – 6’000 Mark teuer. Die Töne werden in Daten umgewandelt. Ein digitaler Signalprozessor lässt eine Signalverarbeitung auf engstem Raum zu. Dies ermöglicht eine bessere individuelle Anpassung. Die „Multikanaligkeit“ ist neben der Rausch-Unterdrückung und der von Nebengeräuschen die eigentliche Neuerung. Theoretisch ist ein differenzierterer Ausgleich einer Hörstörung über viele Frequenzbänder möglich – und subjektiv oft ein besserer Höreindruck. Das ist besonders hilfreich bei Problemfällen. Ein Wermutstropfen: Bisher sind diese Geräte im „Cocktail-Party – Effekt“) anderen noch nicht überlegen. Ein Test lohnt aber immer.
Billige Batterien
Hörgeräte-Batterien bezahlen die Krankenkassen nur bis zum 18. Lebensjahr. Stärkere Hörgeräte verbrauchen mehr Batterien („Knopfzellen“) als schwächere. Entscheidend beim Vergleich des Batterieverbrauchs sind Betriebszeit und Verstärkung des Hörgeräts. Hörgeräte-Batterien werden zu sehr unterschiedlichen Preisen und in unterschiedlichen Qualitäten angeboten: zwischen 1.50 und 6 Mark pro Stück bei einem Verbrauch von 3 – 6 oder 8 Stück im Monat. Hörgeräte-Akustiker verkaufen Batterien für etwa 3 Mark, im Versandhandel (Internet) können sie in größeren Mengen viel preiswerter bezogen werden – für weniger als 1 Mark pro Stück.
Die Leistungsaufnahme von Hörgeräten liegt zwischen 0.7 mA/h und 30 mA/h (Super-Power), bei einem digitalen Hörgerät (DigiFocus 1) zum Beispiel bei 1.2 mA/h. Für eine Batterie (Grösse 13, 1.4 V) werden von Herstellern bei den jetzt durchweg gebräuchlichen Zink/Luft-Batterien im Schnitt 200 Betriebsstunden angegeben. Die Zukunft bringt auch hier Neuerungen: Die Firma
auric wird demnächst ein batterieloses Gerät mit Kondensatortechnik anbieten.
Hochpreismarkt und Preisbrecher
Trotz kontinuierlich fallender Preise bei digitalen Medien steigen die Preise für Hörhilfen. Gerüchte über Gewinnspannen wie bei Pizzabäckern machen die Runde. Kenner der Szene gehen von Aufschlägen um das 4- bis 7-fache aus. Dennoch werden Umsatz-Einbussen vermeldet: wachsende Konkurrenz durch Versender, EU-Wettbewerb und Preisbrecher aus den eigenen Reihen könnten die Hochpreis-Schienen bald zum Abstellgleis machen.
So funktioniert das System
Im HMV unterscheiden die Berater der Kassen drei Gerätegruppen nach technisch nicht eindeutig definierten Kriterien (Kanaligkeit). In der Folge sollen fast 150 Produkte der höchsten Festbetrags-Gruppe 3 falsch eingestuft worden sein. Dies würde jährlich 2-stellige Millionenschäden für die Kassen und 3-stellige für private Zuzahler bedeuten. 1999 Ist ein Kriterium (Automatic Gain Control) verändert worden, sodass zahlreiche Fehleinstufungen korrigiert wurden.
Wer prüft wen?
Voraussetzung für die Aufnahme ins Hilfsmittel-Verzeichnis ist eine technische Prüfung, die über Jahrzehnte von der
Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig durchgeführt wurde. Mitte 1997 teilte der
Zentralverband der Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI) dem PTB seine Absicht mit, ein privatwirtschaftliches Prüfinstitut für Hörgeräte, die
Deutsche Hörgeräteinstituts GmbH (DHI), einzurichten. Der ZVEI repräsentiert marktführende Firmen wie
SIEMENS, die zusammen mit der Bundesinnung der Akustiker deren zentrales Ausbildungsinstitut, die
Akademie für Hörgeräte-Akustik in Lübeck, führen. Siemens ist auch im Vorsitz beigeordneter Verbände vertreten. Seit März 1999 prüft allein das DHI unter Leitung des bei der Bundesinnung der Akustiker angestellten
Diplom-Ingenieurs Reimer Rohweder, ohne akkreditiert zu sein. Alleiniger Gesellschafter des DHI ist die Bundesinnung der Hörgeräte-Akustiker.
Seit dem Juni 1998 gilt in der EU das
Medizinprodukte-Gesetz. Damit wären allein in Deutschland über 20 benannte Stellen prüfungsberechtigt, in Europa über 50. In Deutschland, wo private Zuzahlungen frei kalkuliert werden dürfen, bewegen sich die Preise auf dem Niveau von Hochleistungs-Computern: Preislisten existieren weder für Leistungen, noch für Produkte. Manche Akustiker berechnen die Otoplastik extra, obwohl sie im Preis enthalten sein sollte oder schlagen sie auf die Reparaturpauschale auf. Statt konkreter Produkte werden auf den Rechnungen oft nur Produktreihennamen genannt. Das Preisauszeichnungs-Gesetz wird zum Beispiel mit Pappattrappen oder zerlegten Modellen im Schaufenster umgangen. Die vom Hörakustik-
Mittelstandskreis genannten Einkaufspreise sollen mehr als doppelt so hoch liegen wie die tatsächlichen Hersteller-Abgabepreise.
Autor: Thomas Keck
Thomas Keck ist durch seinen Beruf als Hörsystemakustiker bestens mit der Präzision und Sorgfalt vertraut, die sowohl für die technische Arbeit als auch für den direkten Kundenkontakt erforderlich sind. Sein Werdegang zeugt von einer kontinuierlichen Entwicklung und einem hohen Maß an Fachwissen, unterstrichen durch den Meisterbrief und die Selbstständigkeit. Er verfolgt seine Interessen mit Leidenschaft und widmet sich einer Vielzahl von Aktivitäten, von Musik über die Beschäftigung mit Oldtimern bis hin zur Werteschätzung der Bibel. Thomas bewundert Menschen, die in ihrem Feld Spitzenleistungen erbringen, wie diverse Musiker und Schauspieler. Dies deutet auf eine hohe Wertschätzung für Expertise und handwerkliches Können hin.
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