Als Musikerin und Komponistin begeistert Evelyn Glennie Jung und Alt und ist nicht nur für Kenner ein bekannter Name. Sie war Gast auf Festivals in Athen, Bergen, Bilbao, Evian, London, Prag, Wien und feierte überaus erfolgreiche Konzerte auf allen Kontinenten. Besonders die moderne, die avantgardistische Klassik hat es ihr angetan. Denn „dort hat der Künstler sehr viel Freiheit“, meint sie. Ihre Deutschland-Tournee in zwölf Städten im November und Dezember 1999 mit der Northern Sinfonia of England unter der Leitung von Jean-Bernard Pommier war mehr als beeindruckend. Frauke Mansholt sprach mit Evelyn Glennie und erlebte sie im Stuttgarter Beethovensaal und Sabine Grehl besuchte ihr Konzert im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt.
Mit uns kamen schwerhörige und ertaubte Musikliebhaber:innen. Einige von uns waren auch einfach nur neugierig. Eine taube Musikerin? Geht
denn das? Natürlich! Denken wir an Beethoven, Smetana…
Wer ist Evelyn Glennie?
Das Bild der Musikerin in Programmheften zeigt ihre Erfolge, ihren Entwicklungsweg als „First Lady des Schlagzeugs“, ihre Zusammenarbeit mit den unterschiedlichsten Orchestern, ihre CD’s. Keinen Hinweis findet man zu ihrer Ertaubung. Sie ist Musikerin und will es auch sein. Angesprochen auf ihr Hörproblem, sagt sie: „Die vermeintliche Taubheit gibt es nicht – ich höre auf meine Art.“
Geboren in Aberdeen/Schottland spielte sie Klavier und später Klarinette, bis sie mit 11 Jahren ertaubte. Danach wandte sie sich dem Schlagzeug zu und beherrscht heute eine Vielfalt von Schlag- und Klang-Instrumenten aus Holz, Leder und Metall, aber auch den Dudelsack. Ihre Improvisationen verdankt sie ganz alltäglichen Eindrücken, etwa beim Bummeln durch belebte Strassen einer unbekannten Stadt, wie gerade zum Beispiel Berlin.
Nach ihrer Ertaubung bewarb sich Evelyn Glennie am Königlichen Konservatorium in London und verbarg ihre Taubheit. Doch ganz verheimlichen konnte und durfte sie das Hörproblem nicht. So bestellte man sie ein 2., 3. Mal, weil man einfach nicht glauben wollte, dass sie nichts hört. „Musik muss mit allen Sinnen erfahren werden und hat vielschichtige Ebenen. Ein Musiker muss die Instrumente fühlen, spüren können. Das ist für mich der Unterschied zwischen Hören und Lauschen. Daher ist Stille für mich tiefgreifend und mächtig. Wenn der Mensch von Lärm umgeben ist, kann er Musik nicht fühlen. Musik kann nicht gedacht oder mit dem Verstand erfasst werden wie eine physikalische Formel. Musik ist eine Skala von Gefühlen. Daher ist Hören/Lauschen mein Beruf, und ich empfinde mich als Teil des Geschehens, als Teil des Klangs im Konzert. Ich verlasse mich im Konzert nicht nur auf den Dirigenten, ich erwarte auch nicht, dass man auf mich Rücksicht nimmt“, antwortet sie auf die provokante Frage, was Stille innerhalb der Musik ihr bedeute.
Glennie gibt auch hin und wieder Workshops und Seminare. Dort kreieren die Teilnehmer gemeinsam eine Performance mit Fragen wie: „Was ist Musik? Was ist Hören/Lauschen? Was geschieht hier/jetzt?“ In diesen Seminaren sind Geben und Nehmen in der Balance, da sind alle Mitwirkenden nur sie selbst, wo jeder etwas zu geben hat.
Es ist ein Erlebnis, Evelyn Glennie im Konzert und während der Probe zu sehen. Stets barfuss und mit wehendem Überwurf betritt sie das Philharmonische Podium und zieht in dem eigens für sie komponierten Teil »Veni, veni, Emmanuel« mit raumgreifenden Bewegungen alle verfügbaren Register der 15 Meter langen Schlaginstrumenten-Skala, die über Marimbaphone, Gongs, Röhren reicht, und mit Glockentönen im hinteren Teil des Podiums endet. Ein unsichtbares Band verbindet sie mit dem Dirigenten, den ersten Geigern sowie mit dem gesamten Orchester. Eine wahrlich gelungene Kooperation ohne Worte, so ganz selbstverständlich. Sie stellt ihre Instrumente so auf, dass sie den Dirigenten sehen kann. „Wir können beim Musizieren nur zusammen atmen, wenn ich auch das Orchester sehe.“ Glennies Lauschen hat etwas Animalisches an sich: barfüssig das Energiefeld aufbauend, mit katzenhaften Bewegungen und Augen, die totale Wachheit verraten, präsentiert sie all ihre Instrumente und holt mit dem Schlagzeug die Sterne auf die Erde. Die zierliche Schottin versprüht ein kraftvolles Feuerwerk an Klängen und Paukenschlägen, einen Adventsorkan ganz im Sinne des Komponisten MacMillan bis hin zum Hineinlauschen in das von ihr selbst bearbeitete Rondo Capriccioso von Camille Saint-Saëns, wo ein Tanz der Klöppel zu bewundern ist. Spontaneität, Ideenreichtum und Erlebnischarakter bestimmen das Konzert.
Evelyn Glennie ist eine faszinierende Musikerin, die mit totalem körperlichem Einsatz arbeitet und vielleicht dadurch eine eigenwillige Schönheit ausstrahlt. Sie liebt ihr Orchester und wird von ihm wieder geliebt. Das sieht und spürt man nicht nur während des Applauses. Dass sie taub ist macht sie wohl zur Ausnahmemusikerin und zeigt, dass Lauschen und Wahrnehmen mehr ist als Hören, und auch, was Musik als Botschaft zu vermitteln vermag.
Autorinnen: Frauke Mansholt / Sabine Grehl