Der Kollege Paul Martin Nissen aus Niebüll ist in einem Projekt zur Rehabilitation hörgeschädigter Kinder sowie Fort- und Weiterbildung von Fachpersonal für die Betreuung der von der Atom-Katastrophe in Tschernobyl betroffenen Kinder aus Weißrussland engagiert. Er beschreibt hier nicht nur, was bereits getan wurde und noch getan werden muss, sondern erhofft sich auch Mithilfe aus unserem Leserkreis – Red.
Am 26. April 1985 hat sich die grösste Katastrophe seit 1945 ereignet, die Tragödie im Atomkraftwerk Tschernobyl. Zuerst wurde sie eine „bescheidene Havarie“ genannt, und Millionen von Menschen wussten nicht, dass an diesem lag Ihr Leben in zwei Teile geteilt wurde, in das Leben vor und nach Tschernobyl.
Nach 1989 konnten die Folgen der atomaren Katastrophe von Tschernobyl in Weissrussland nicht mehr verschwiegen werden. 70% der ausgetretenen Radioaktivität waren in diesem Land niedergegangen. In Belarus wurden 23% des Territoriums verseucht.
NIEBÜLL/PINSK.
Die Hörgeräte-Hilfe für strahlengeschädigte Kinder aus der Tschernobyl-Region geht weiter. Neben den jährlich wiederkehrenden Erholungs- und Versorgungs-Aufenthalten in Niebüll für rund zwei Dutzend schwer gehörgeschädigter Kinder aus den Gehörlosen-Schulen im weissrussischen Pinsk und Kobrin ist es den Initiatoren Frauke und Paul Martin Nissen nun gelungen, ein hochkompliziertes Gerät zur Früherkennung von Gehörschäden in die neu gebaute Rehabilitations-Klinik von Pinsk zu erwerben und selbst dorthin zu bringen.
Ermöglicht wurde diese Anschaffung durch die spontane und grossherzige Spende von 24’000 Mark von Jürgen Gesner aus Münster, dem Präsidenten der Aktion Essen für Obdachlose „Die Tafel“. Den fehlenden Betrag von 6’000 Mark spendeten ebenso spontan die Teilnehmer einer Hörgeräte-Akustiker – Tagung. Mit diesem Gerät ist es möglich, bei Kleinkindern bereits im 1. Lebensjahr festzustellen, ob und wieweit Schädigungen am Gehör bestehen. Ähnlich einem EEG, bei dem die Gehirnströme gemessen werden nutzt diese computergesteuerte Apparatur die Reaktionen des Gehirns auf die Wahrnehmung von Schall, ohne Zutun des Patienten. Das frühe Erkennen von Gehörschäden und die Verwendung von Hörgeräten ist von grösster Wichtigkeit, denn die Entwicklung der Hörbahnen im Gehirn von Kindern geschieht ausschliesslich im 1. Lebensjahr und festigt sich dann nur noch. Das ist auch der Grund dafür, dass bei spätem Einsatz von Hörhilfen grosse Schwierigkeiten beim Erlernen von Hören und Sprechen auftreten. Grossen Dank für ihre Hilfe erhielt die Niebüller Delegation vom gesamten Personal der Klinik, insbesonders vom Klinik-Chef Professor Wolchow. Dieser ist denn auch durch sein Mandat im weissrussischen Parlament ein Garant dafür, dass einerseits der Klinik die notwendigen Finanzmittel zufliessen, andererseits die deutschen Hilfslieferungen dort fach- und sachgerechte Verwendung finden. Zwei Ärzte aus der Pinsker Reha-Klinik werden demnächst nach Hamburg reisen, um für die neuen Geräte eine Ausbildung zu erhalten. Die gesamte Aktion der Nissens und ihrer Mitstreiter war sogar dem weissrussischen Fernsehen einen Bericht wert.
Bei dem 5-tägigen Besuch in Pinsk konnten sich die Nissens, begleitet von Mitarbeiterin Nicole Minz, Gastmutter Anja Petersen und Hörgeräteakustiker Axel Mumme aus Rostock, davon überzeugen, dass die „Hilfe zur Selbsthilfe“ in den beiden Gehörlosen-Schulen inzwischen reibungslos klappt.
„Alle von den Nordfriesen gespendeten Hörgeräte befanden sich in einem guten Zustand, alle Kinder werden gut betreut“, freute sich Paul Martin Nissen über die Fortschritte in der in Pinsk eingerichteten Hörgeräte-Werkstatt. Die in Niebüll angelernten weissrussischen Schulangestellten zeigten grosses Engagement bei der Betreuung der etwa 200 Kinder, die bislang mit Hörgeräten aus Niebüll versorgt wurden.
Für den 15. November, um 19.30 Uhr, haben die Initiatoren der Hörgeräte-Hilfe einen Informationsabend im Gasthof „Landschaftliches Haus“ geplant, an dem auch ein Lichtbildervortrag von dieser Reise gezeigt wird. Interessierte und Gäste sind zu dieser Veranstaltung herzlich eingeladen. Weiterhin werden dringend Gasteltern gesucht für die Zeit Ende Mai / Anfang Juni 2000. Die Kinder haben wochentags eine Betreuung über Tag und nehmen ausserdem an einigen Ausflügen und Aktionen teil.
Mehr als 2 Millionen Menschen leben heute in diesen hoch verstrahlten Gebieten, darunter annähernd 800’000 Kinder. Sie sind es vor allem, die heute sichtbar die Folgen zu tragen haben: Viele leiden an Immunschwäche und Tumorerkrankungen, an Lern- und Konzentrations-Störungen, Anämie und schweren klinischen Symptomen. In diesem Zusammenhang spricht man auch – makaber genug – von »Tschernobyl-Aids«.
Aufgrund der beunruhigenden Lebenssituationen der belarusischen Kinder nach dem Reaktorunfall wurde die Stiftung „Den Kindern von Tschernobyl“ 1989 in Minsk ins Leben gerufen. Diese Stiftung organisiert mittlerweile pro Jahr bis zu 15’000 Kinderferien in 23 Ländern. Auch in Schleswig-Holstein sind jährlich ca. 600 Kinder bei Gasteltern zur Erholung. Hörgeschädigte Kinder jedoch könnten an diesem Ferienprogramm nicht teilnehmen.
In einer Internatschule in Pinsk leben während des gesamten Schuljahres ca. 250 Kinder zwischen 3 und 17 Jahren. Diese Kinder werden als taubstumm abgestempelt, obwohl sie teilweise nur hochgradig schwerhörig sind. Diese Hörschäden sind zum Teil mit der Katastrophe von Tschernobyl in Verbindung zu bringen.
Unser Projekt begann im Frühjahr 1995 mit der vorgeblich taubstummen Vera, die von ihren alkoholsüchtigen Eltern in der Taubstummen-Schule mit integriertem Heim in Pinsk abgegeben, aber nie wieder abgeholt wurde. Vera kam durch einen glücklichen Zufall mit der Tschernobyl-Hilfe in unsere Region und man suchte nun Unterstützung für die Ohren- und Augen-Untersuchungen. Als ich von dem Fall hörte, bot ich spontan meine Hilfe an.
Vera war, wie unsere Messungen ergaben, „nur“ extrem schwerhörig, aber keineswegs taub und wurde mit Hörgeräten und Brille versorgt. Die
strahlenden Augen von Vera, als sie die ersten akustischen Laute – den Wind in den Bäumen, das Zwitschern der Vögel, die Sprache der Menschen, das Knacken eines frischen Brötchens beim Reinbeissen – hören konnte, öffnete in uns die Tür für ein grosses Vorhaben.
Aus der anfänglichen Unterstützung durch Transporte mit Hilfsgütern und Medikamenten für die Menschen in der Tschernobyl-Region Pinsk wurde die Patenschaft für das Taubstummen-Heim in Pinsk entwickelt. 200 Kinder sind jetzt versorgt und in der Lage, ihre Muttersprache zu erlernen, um später einmal ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Hilfe zur Selbsthilfe ist unser Ziel und so haben wir Lehrkräfte zu Technikern ausgebildet, die in einem von uns installierten Labor Ohrpassstücke selbst herstellen können. Für die jährliche Fortbildung standen beim letztjährigen Besuch von 25 Kindern und vier Betreuern bei uns Reparaturkurse auf dem Programm. Um das gut ausgestattete Labor in Pinsk optimal zu nutzen, haben wir eine Kooperation zur Schwerhörigen-Schule in Kobrin geschaffen. Neben den als taubstumm abgestempelten ca. 200 Kinder in Pinsk kommen noch einmal ca. 180 schwerhörige Kinder in Kobrin dazu, die in diesem Projekt versorgt und betreut wurden. Auch da haben wir ein kleines Labor eingerichtet und eine Technikerin ausgebildet. Leider kommen wir mit den Kindern aus der Schwerhörigen-Schule erst in Kontakt, wenn diese 4 bis 5 Jahre alt sind, so dass die für die Sprachentwicklung wichtigen ersten 3 Lebensjahre schon vergangen sind. Durch grosszügige Spende unserer Kollegen konnten wir letztes Jahr ein Früherkennungs-Gerät für kindliche Hörstörungen mit nach Pinsk nehmen, um es in einem Reha-Sanatorium für Kinder zu installieren. Zwei Ärzte erlernen in Hamburg die Handhabung dieses Gerätes, so dass wir künftig Kleinkinder schon im 1. Lebensjahr versorgen können. Auch schon 1999 waren vom 21. Mai bis 15. Juni 24 Kinder in unserer Region, um sich zu erholen. Das gute Essen, die liebevolle Zuwendung der Gasteltern und natürlich die Hörgeräte-Anpassung sowie die Nachkontrolle bauten die kleinen Gäste auf. Mit einem gestärkten Immunsystem, das sie ca. 1 Jahr von Infekten frei hält, traten sie die Heimreise an.
Die 3 Säulen Elternvertretung, Schule und unsere Organisation haben sich als sehr erfolgreich für die Kinder erwiesen und werden auch weiter segensreich für die Kinder wirken können, soweit sich Menschen mit grossem Herz finden lassen, die dieses Projekt unterstützen. Eine Schar an Helfern haben auf Strassenfesten, Musikfestivals, Firmenaktionen usw. dazu beigetragen, dass bis heute ca. 180’000 DM investiert werden konnten. Doch weitere Investitionen sind dringend notwendig, soll das Ziel der Aktion erreicht werden. Und das heisst nichts anderes, als für die ebenso schuldlos wie schrecklich vom Schicksal geschlagenen schwerhörigen Kinder von Tschernobyl alles zu tun, damit sie die heute verfügbaren Chancen bekommen, ein annähernd gleichwertiges Mitglied unserer akustisch kommunizierenden Gesellschaft werden zu können.
Wir hoffen, allen, die schon seither an diesem Projekt beteiligt sind, mit unserem Artikel Mut gemacht und ihnen das Gefühl vermittelt zu haben, dass sie stolz sein können auf das bisher Erreichte. Und dass in unserer ansonsten »knallharten« Welt sich mit dem Gedeihen der Kinder aus Weissrussland längst verschüttet geglaubte Spuren solidarischer Menschlichkeit zeigen. Falls Sie uns weiterhin unterstützen oder neu der Aktion beitreten möchten – gleich ob mit Geld oder Taten – sind wir allen sehr dankbar und sagen im Namen der Kinder wie ihrer Eltern: „Spassiba – Danke!“
Autor: Paul Martin Nissen
Helfen können Sie beispielsweise mit einer Patenschaft:
1. Mit 800 € = Reisekosten + 2 Hörgeräte und Batterien für 1 Jahr. Auch Ratenzahlung (per Dauerauftrag) ist möglich = 12 x 67 €.
2. oder für ein Jahr 300 € = Reisekosten. Ratenzahlung: 12 x
25 € für 1 Jahr.
Volksbank Niebüll Konto-Nr. 16 516, BLZ 21791601, Verwendungs-Zweck: Tschernobyl-Hilfe.
Aber auch sonstige Hilfe wird benötigt:
- Hörgeräte
- Batterien
- Unterkunft für eine Ärztin aus Pinsk während ihres Praktikums an dem
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugend-Medizin
- soziale Spendenaktionen etc.
Übrigens: Spendenquittungen werden ausgestellt.