Pille statt Hörgeräte?
In einer weit verbreiteten TV-Zeitschrift entdeckten wir die hier faksimilierte Anzeige und fragten bei PD Dr. med. Reinhard G. Matschke, HNO-Arzt in Hannover, nach, was von dieser »Alternative« zu halten ist. Seine Stellungnahme geriet nicht ohne Ironie… (Red.)
»Nepper-Schlepper-Bauernfänger« hieß eine Fernsehsendung in den 60er Jahren, in der ein bekannter Fernsehmoderator anhand von ausgewählten Beispielen auf die Vielfältigkeit der Wege hinwies, mit der gewiefte Zeitgenossen nur unser Bestes wollten – nämlich unser Geld!
Anders ausgedrückt: Die Welt will betrogen werden, also betrügen wir sie. Die Erfolgreichen leben von den Dummen und die Dummen von ihrer Arbeit. Die Reihe der »Volksweisheiten«, die sich in solchen Sprüchen ausdrückt, ließe sich beinahe unendlich fortführen und hat zu allen Zeiten, in denen Menschen in Gesellschaften zusammenlebten, bestanden.
Gibt es wirklich nichts Neues? Natürlich nicht!
Polytamin heißt das neue Wundermittel, das, wenn man der Werbung glauben darf (aber darf man das?), es endlich möglich macht, auch ohne Hörgerät besser zu hören. Mit der Überschrift »Pille statt Hörgerät« und den fettgedruckten, mit Ausrufungszeichen versehenen Anpreisungen wird dem Unbedarften suggeriert, er könne bei Einnahme der Spezial-Arznei »Wieder aktiv am Leben teilhaben! Endlich besser hören! Endlich besser leben! « natürlich mit »weniger störenden Nebengeräuschen!« und »mehr Sicherheit!«.
Wie in der Werbung (und der Politik) üblich, wird zunächst erst mal nichts offensichtlich Falsches behauptet oder gar gelogen. Aber man kann sehr gut durch geschickte Wortwahl, Weglassen von Teilinformationen, Verbindung von Allgemeinplätzen mit Wunschvorstellungen und Versprechungen, deren Einhaltung nicht nachprüfbar ist, eine Vorstellung bei einem Leser wecken, der unter einer Altershörigkeit mit all ihren Erscheinungen leidet, dass ihm hier »ganz gezielt und ohne Nebenwirkungen« geholfen werden kann.
In der Tat sind die Inhaltsstoffe dieses Kombi-Vitamin – Präparates so dosiert, dass sie um die Hälfte bis zu einem Zehntel unter der therapeutisch wirksamen Dosis für die Einzelsubstanzen liegen. Wie war das doch gleich mit dem schulmedizinischen Grundsatz: Wo keine Haupt-, da keine Nebenwirkung? Natürlich vermindern sich auch störende und lästige Nebengeräusche (Ohrensausen) und »man kann mitreden und ist so wie früher mitten drin im aktiven Leben«. Denn »dank Polytamin« hört man wieder klarer, »reiner« und »die Ohren sind wacher, leistungsfähiger«.
Schöne neue Welt! Alles, was man braucht, in einer Pille! Selbstverständlich mit dem Nachsatz: bei Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker…
Da war doch noch was?!? Ach ja, das Hörgerät! Nach seriösen Untersuchungen verbessern Hörgeräte tatsächlich die Lebensqualität von Schwerhörigen um 15 %. 1999 belegte eine Studie über die Kosten-Nutzen-Relation von Hörgeräteversorgungen, dass »Hörhilfen neben Raucher-Entwöhnungskampagnen und Krebs-Früherkennungsmaßnahmen zu den kosteneffizientesten ärztlichen Interventionsmöglichkeiten zur Vermeidung von Folgekosten zählen«. Denn diese entstehen, wenn Menschen als Folge ihrer Behinderung durch Hörverlust unter vorzeitiger Ermüdung, Stress, Angst, Depressionen, Vereinsamung oder Unzufriedenheit im Beruf leiden müssen. Bei der Studie wurde die Beeinträchtigung der Lebensqualität von Personen mit einem Alter ab 55 Jahren untersucht. Nach einer Hörgeräteanpassung berichteten die Betroffenen über bedeutsame Verbesserungen in allen Aspekten des Hörfähigkeits-Inventars, hatten mehr und bessere Sozialkontakte und stuften ihren Gesundheitszustand als deutlich positiver ein. Diese Erhebungen wurden innerhalb eines Zeitraumes von 16 Wochen nach der Hörgeräteanpassung gemacht. Na klar, schließlich ist und bleibt das Hörgerät eine Prothese und der Umgang damit will erlernt und geübt werden.
Na bitte! Harte Arbeit für den Erfolg statt einfaches Einwerfen einer Pille?!? Vielleicht sollte man doch den Sirenen der Werbung folgen!?! Die Enttäuschung wird garantiert, der Schiffbruch ist vorprogrammiert. Also doch: Die Welt will betrogen werden…???
Na, und wo lassen Sie denken?
Autor: Reinhard Matschke