Pädagogische Audiologie (To be Insider in 20 Minute n)

Grundlage einer zeitgemäßen Hörgeschädigten-Pädagogik

Mal ehrlich, waren Sie sich bisher über den Unterschied zwischen »Pädaudiologe« und »Pädoaudiologe« im Klaren? Jedenfalls haben sich inzwischen die medizinischen Audiologen (Pädaudiologen) und die Sonderpädagogen (Pädoaudiologen) geeinigt – die Hörgeschädigten-Lehrer widmen sich künftig in Unterscheidung zu den medizinischen Audiologen der »Pädagogischen Audiologie«. Und der Berufsverband Deutscher Hörgeschädigten-Pädagogen (BDH) hat inzwischen einen entsprechenden Arbeitskreis gegründet, dem
Prof. Dr. Frans Coninx, Köln,
Manfred Drach, Friedberg,
Johannes Eitner, Hamburg,
Hermann Ebert, Würzburg,
Christiane Hartmann-Börner, Hamburg,
Alfred Hinderer, Schwäbisch-Gmünd,
Knut Mangold, Frankenthal, und
Werner Salz, Frankenthal, angehören. Der Arbeitskreis hat ein BDH-Papier zur »Pädagogischen Audiologie« erarbeitet, das wir nachstehend vorstellen – Red.
Präambel

Nach heutigem Erkenntnisstand spielt das Hören in der Erziehung und Bildung hörgeschädigter Kinder und Jugendlicher eine entscheidende Rolle. Dementsprechend muss die Pädagogische Audiologie als fester Bestandteil in den Schulen für Gehörlose, Schwerhörige bzw. Hörgeschädigte institutionalisiert sein. Sie ist so auszustatten, dass sie sowohl sächlich als auch personell in der Lage ist,

  • periphere Hörschäden und zentral-auditive Wahrnehmungs-Störungen abzuklären, regelmäßig
  • den Hörstatus betroffener Kinder und Jugendlicher zu überprüfen,
  • die Effizienz der Hörhilfen nicht nur umfassend zu überprüfen, sondern diese vor dem Hintergrund des Hörschadens auch kritisch zu hinterfragen,
  • alle weiteren technischen Hörhilfen wie Hör-/Sprech-Anlagen bzw. Sende-/Empfangs-Anlagen auf ihre Effektivität hin zu überprüfen und individuell anzupassen.So können Entwicklungen erkannt und geeignete Maßnahmen im Sinne einer diagnosegeleiteten Förderung eingeleitet worden, Dies setzt voraus, dass Hördiagnostik und Optimierung der Hörtechnik von Anfang an in einem wechselseitigen Verhältnis zu Unterricht und Förderung stehen.Die Pädagogische Audiologie spielt eine ganz entscheidende Rolle bei Früherkennung, Früherfassung und Frühförderung hörgeschädigter Kinder. In den ersten Lebensjahren vollziehen sich entscheidende Reifungsprozesse der Hörbahnen und des Cortex. Dazu bedarf es der gezielten Aufnahme von Hörreizen und der daraus resultierenden Hörerfahrung. Hörgeschädigte Kinder machen diese Erfahrung nur, wenn ihre Hörschädigung frühzeitig erkannt wird und eine zeitgleiche Versorgung mit adäquaten Hörhilfen erfolgt.

    Pädagogische Audiologie kooperiert interdisziplinär mit verschiedenen Fachdisziplinen wie
    Medizin,
    Akustik,
    Technik,
    Pädagogik und
    Psychologie. Gerade diese enge Zusammenarbeit bestimmt die Effektivität der Maßnahmen zum Wohle der hörgeschädigten Kinder und Jugendlichen.

1. Zielsetzung und Aufgabenfelder

Die Pädagogische Audiologie verfolgt als Ziel die Sicherstellung der Grundlagen für eine optimale Förderung der Hörfähigkeit des Kindes unter Berücksichtigung seiner individuellen Gesamtentwicklung. Daraus lassen sich folgende Aufgabenfelder ableiten:

  • Prozessuale Erhebung audiologischer Daten
  • Umsetzung und Weiterleitung dieser Daten in die Praxis als Basis für eine diagnosegeleitete Hörgeschädigten-spezifische Förderung
  • Bestätigung, Ergänzung, Verfeinerung oder Modifikation von audiologischen Befunden
  • Sicherstellung einer optimalen hörtechnischen Versorgung, die auch in der pädagogischen Praxis akzeptiert und genutzt wird
  • Beratung von Eltern und weiteren Bezugspersonen
  • Sensibilisierung für und die Durchführung von Früherfassung, Früherkennung und Frühbetreuung hörgeschädigter Kinder
  • Evaluierung und Weiterentwicklung audiologischer Verfahren
  • Auf- bzw. Ausbau von Strukturen für interdisziplinäre Kooperation.
2. Besonderheiten der pädagogischen Audiologie

Vor dem Hintergrund der interdisziplinären Zusammenarbeit sind die Aufgaben der Pädagogischen Audiologie im Zusammenhang mit den Arbeitsbereichen Phoniatrie-Pädaudiologie, HNO-Heilkunde und Hörgeräte-Akustik zu sehen. Sie unterscheiden und ergänzen sich allerdings im Hinblick auf einige wesentliche Aspekte.
Pädagogisch-audiologische Aufgaben werden geleistet von Personen mit hörgeschädigten-pädagogischer Ausbildung und praktischer pädagogischer Erfahrung. Sie sind dadurch in der Lage, das Hörverhalten des Kindes zu interpretieren vor dem Hintergrund

  • seines allgemeinen Entwicklungsstandes,
  • seiner Reaktions-Möglichkeiten,
  • seiner intellektuellen Verarbeitungs-Möglichkeiten,
  • eventueller Verhaltens-Auffälligkeiten und Mehrfach-Behinderungen und
  • seiner Hör-, Sprech- und Sprach-Kompetenz.
    Hördiagnostik und Optimierung der Hörtechnik stehen von Anfang an in einem wechselseitigen Verhältnis zu Förderung und Unterricht. Sie werden unter der Fragestellung durchgeführt, welche Maßnahmen daraus für diese Bereiche abzuleiten sind. Das macht Diagnostik zur Förderdiagnostik.Die Pädagogische Audiologie findet in Räumlichkeiten statt, die dem Kind bekannt sind. Es ist dabei in der Regel umgeben von Bezugspersonen wie z.B. Frühförderinnen und Frühförderer, Lehrerinnen und Lehrern, Erzieherinnen und Erziehern. Dies fördert nicht nur ein natürliches, ungezwungenes Verhalten, es führt oft auch dazu, dass Verständigung erleichtert oder überhaupt erst möglich wird. Die häufigen Begegnungen begünstigen den Aufbau einer Beziehung zu dem Kind. Die Folge ist, dass sich die Hörmessungen zunehmend in einer gelungenen Interaktion vollziehen, die im Rahmen der schwerpunktmäßig subjektiv durchgeführten audiometrischen Verfahren in der Pädagogischen Audiologie Voraussetzung ist.Die Pädagogische Audiologie basiert auf einer kontinuierlichen Beobachtung des Hörstatus. »Kurze Wege« innerhalb der schulischen Einrichtung und direkter fachlicher Austausch ermöglichen schnelles und effektives Handeln bei auftretenden Problemen oder unerwarteten Veränderungen.
3. Aufgaben der Pädagogischen Audiologie

Vorbereitende bzw. begleitende Maßnahmen zur Hörmessung

  • Pädagogisch-audiologisches Vorgespräch (Beziehungsaufnahme, Einschätzung der Hör-, Sprech- und Sprach-Kompetenz, Erhebung erster anamnesischer Daten)
  • Gehörgangs-Inspektion
  • Funktionskontrolle der Hörgeräte bzw. des Cochlea-Implantats.

Datenermittlung im Hinblick auf den peripheren Hörstatus

  • Impedanz-Audiometrie zur Beurteilung der Mittelohrfunktion
  • Ton-Audiometrie zur Ermittlung von Hörschwelle und Unbehaglichkeitsschwelle (mit Kopfhörern, gegebenenfalls im Freifeld)
  • Knochenleitungs-Messung zur Differenzierung von Schallleitungs- und Schallempfindungs-Schwerhörigkeit
  • Sprach-Audiometrie zur Ermittlung des auditiven Sprachverständnisses.
    Die Aufgaben unterscheiden sich nach audiometrischen Leistungen und nach Zielgruppen. Je nach Alter bzw. Entwicklungsstand werden Kinderlieder, frequenzspezifische Geräusche, Wobbeltöne, Sinustöne, Rauschen, Bilder oder Spielmaterial eingesetzt.

Datenermittlung im Hinblick auf eine zentral-auditive Wahrnehmungsstörung (Dieser Terminus wurde in Anlehnung an die englischsprachige Literatur gewählt, in der von »central auditory disorders« gesprochen wird. Ebenfalls in Deutschland verwendete Termini mit gleicher Bedeutung: zentral-auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungs-Störung, zentral-auditive Wahrnehmungs-Störung, zentrale Hörstörung, zentrale Fehlhörigkeit, Fehlhörigkeit.)

Nach Abklärung des peripheren Hörvermögens werden folgende zur Zeit übliche Testverfahren durchgeführt:

  • Überprüfung des Richtungshörens
  • Sprachaudiometrie zur Ermittlung des Sprachverständnisses unter Störgeräusch-Einfluss
  • Dichotisches Hören zur Überprüfung der Fähigkeit, 2 gleichzeitig auftretende Sprachinformationen zu verarbeiten
  • Hörfeldskalierung zur Kontrolle der Lautheitsempfindung
  • Testverfahren zur Lautdifferenzierung und Lautanalyse
  • Testverfahren zum auditiven Gedächtnis
  • Testverfahren zur zeitlichen Verarbeitung von akustischen Reizen und Sprache.
    Zur differenzierten diagnostischen Absicherung sind zusätzliche medizinische und psychologische Untersuchungen dringend erforderlich. Diese sind interdisziplinär abzustimmen. Auch bei peripher hörgeschädigten Kindern kann eine zentral-auditive Wahrnehmungsstörung vorliegen.

Einstellung der technischen Hörhilfen

  • Ermittlung der Hörschwellen mit Hörgeräten bzw. Cochlea-Implantat
  • Hörfeldskalierung zur Ermittlung der erforderlichen Verstärkung durch die Hörgeräte
  • Sprachaudiometrie zur quantitativen und qualitativen Analyse der Sprachverständlichkeit bei unterschiedlichen Schallpegeln mit und ohne Störgeräusch
  • In situ – Messungen (nur über spezielle Otoplastik): Sondenmikrofon-Messung im Gehörgang des Hörgeräteträgers, um die tatsächliche Wiedergabe-Charakteristik des Hörgerätes am Trommelfell zu erfassen
  • Optimierung aller hörtechnischen Hilfen (Hörgeräte, Cochlea-Implantat, stationäre Hör-/Sprech-Anlagen, drahtlose Sende-/Empfangs-Anlagen) sowie deren gegenseitiger Abhängigkeiten.

Regelmäßige Überprüfung der Funktionstüchtigkeit der hörtechnischen Versorgung

  • Kontrolle der Hörgeräte in der Messbox (Frequenzgang, Ausgangsschalldruck, Verzerrung, …)
  • Kontrolle der Hörgeräte / des Cochlea-Implantats (Quick-Check – Programm zur täglichen Überprüfung durch Eltern und/oder pädagogische Mitarbeiter, Kontrollplan und Dokumentation über einen längeren Zeitraum durch zuständige Lehrpersonen).
    Pädagogisches Ziel ist die Eigenkontrolle der hörtechnischen Versorgung durch das Kind im Rahmen seiner Möglichkeiten.

Konsequenzen aus den Ergebnissen der Pädagogischen Audiometrie

  • Initiierung und Koordination interdisziplinärer Maßnahmen
  • Kontinuierliche Beratungsgespräche mit pädagogischen Mitarbeitern zu pädagogisch-audiologischen Fragestellungen und Themen im Hinblick auf eine diagnosegeleitete Förderung
  • Beratung und Begleitung der Eltern in Bezug auf pädagogisch audiologische Fragen und Probleme, auch mit dem Ziel einer optimalen hörtechnischen Versorgung bei der individuellen Förderung des Kindes
  • Beratung und Begleitung von Eltern, Erziehern und Lehrern im Hinblick auf eine geeignete schulische Förderung (Schullaufbahn-Beratung)
  • Beratung von Eltern, Erziehern und Lehrern hörgeschädigter Kinder an Kindergärten, allgemeinen Schulen und Sonderschulen anderer Behinderungsarten
  • Mithilfe bei der Berufswahl-Vorbereitung unter Berücksichtigung der Daten aus der Pädagogischen Audiologie.
    Die Ergebnisse der Pädagogischen Audiologie stehen allen Personen zur Verfügung, die mit der Förderung überprüfter Kinder befasst sind.
4. Voraussetzungen der Pädagogischen Audiologie

Personelle Ausstattung

Im Hinblick auf die Qualitätssicherung ist es erforderlich, dass ein Hörgeschädigten-Pädagoge die Pädagogische Audiologie der schulischen Einrichtung leitet. Dieser sollte

  • über eine umfangreiche Erfahrung in Audiologie und Hörgerätetechnik verfügen. Bei Einstieg in diesen Aufgabenbereich ist eine entsprechende Kompetenz baldmöglichst zu erwerben
  • sich in tätigkeitsspezifischen Bereichen regelmäßig fortbilden
  • in dieser Aufgabe schwerpunktmäßig eingesetzt sein
  • Hörgeschädigten-spezifische Erfahrungen haben, wobei Erfahrungen in der Frühförderung wünschenswert sind
  • zu interdisziplinärer Zusammenarbeit bereit sein.
    In der Pädagogischen Audiologie können nach Bedarf auch weitere Berufsgruppen mitarbeiten.

Technische Ausstattung

Zur Durchführung der audiologischen Überprüfungen sind notwendig:

  • zeitgemäßes, jährlich gewartetes Ton-/Sprach-Audiometer mit Software zur Durchführung der gebräuchlichen Testverfahren
  • Kinderaudiometrie-Tisch (verstellbar)
  • Impedanz-Audiometer
  • Kleinkind-Audiometer (Quick-Check – Audiometer)
  • Tragbares Audiometer für externe Hörüberprüfungen
  • Screening-Tympanometer
  • Schall-Pegelmesser
  • Geräusch- und Musik-Instrumente
  • Spielmaterial für Spiel-Audiometrie
  • Messgeräte zur Überprüfung analoger und digitaler Hörgeräte
  • Ultraschallbad zur Reinigung der Otoplastiken etc.
  • Kleingeräte (z.B. Otoskop, Stethoclip, Batterie-Messgerät etc.)
  • Hard- und Software für Hörfeld-Skalierung
  • geeignete Hard- und Software zur Datenverarbeitung
  • Video-Ausrüstung zur Dokumentation der Überprüfungen.

Räumliche Ausstattung

  • Schallgedämmter Audiometrie-Raum
  • Beratungsraum mit entsprechender Ausstattung (Spielecke)
  • Wartezimmer
  • Büroraum mit angemessener Ausstattung.

Zeitlicher Rahmen

Die Festlegung eines zeitlichen Rahmens für Pädagogische Audiologie ist sehr schwierig. Er differiert deutlich nach Art und Umfang der pädagogischen Fragestellung. So erfordert die Abklärung einer zentral-auditiven Wahrnehmungs-Störung deutlich mehr Zeitaufwand als z.B. die Abklärung des peripheren Hörvermögens. Weiter wird der zu erwartende Zeitaufwand von den individuellen Bedingungen des zu überprüfenden Kindes bestimmt.

Zeitlicher Orientierungsrahmen (Hörprüfung einschließlich begleitender Maßnahmen):

  • hörgeschädigte Kinder bis zur Einschulung ca. viermal jährlich 1 1/2 Std.
  • hörgeschädigte Schulkinder zweimal jährlich ca. 1 Std.
  • Überprüfung hörauffälliger Kinder ca. 1 Std.
  • anlassorientierte audiologische Überprüfungen ca. 1 Std.
    Zusätzlich ist ein angemessenes Zeitbudget erforderlich für Beratungsgespräche, Planung, Koordination und Durchführung interdisziplinärer Maßnahmen sowie organisatorischer Maßnahmen.
Schlusswort

Pädagogische Audiologie ist kein auf einzelne Mitarbeiter der Beratungsstelle begrenztes Tätigkeitsfeld, ihre Ziele und Inhalte können nur im Zusammenwirken aller an der Förderung, Erziehung und Bildung hörgeschädigter Kinder und Jugendlicher Beteiligten verwirklicht werden.
Der BDH fordert:

  • Institutionalisierung der Pädagogischen Audiologie an den schulischen Einrichtungen für Gehörlose, Schwerhörige bzw. Hörgeschädigte unter Berücksichtigung der personellen, technischen, räumlichen und zeitlichen Voraussetzungen
  • Einrichtung eines Ausbildungsganges »Pädagogische Audiologie« im Rahmen des Studiums der Hörgeschädigten-Pädagogik
  • Möglichkeit einer Zusatzqualifikation »Pädagogische Audiologie«
  • Möglichkeit zu regelmäßigen überregionalen Fortbildungs-Veranstaltungen im Bereich der Pädagogischen Audiologie
  • Regelmäßiger Erfahrungsaustausch mit Kollegen in der Pädagogischen Audiologie.

 

Autor: Thomas Keck

Thomas Keck ist durch seinen Beruf als Hörsystemakustiker bestens mit der Präzision und Sorgfalt vertraut, die sowohl für die technische Arbeit als auch für den direkten Kundenkontakt erforderlich sind. Sein Werdegang zeugt von einer kontinuierlichen Entwicklung und einem hohen Maß an Fachwissen, unterstrichen durch den Meisterbrief und die Selbstständigkeit. Er verfolgt seine Interessen mit Leidenschaft und widmet sich einer Vielzahl von Aktivitäten, von Musik über die Beschäftigung mit Oldtimern bis hin zur Werteschätzung der Bibel. Thomas bewundert Menschen, die in ihrem Feld Spitzenleistungen erbringen, wie diverse Musiker und Schauspieler. Dies deutet auf eine hohe Wertschätzung für Expertise und handwerkliches Können hin.

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