„Ey Mann, ist das unangenehm!“
»Warum redet ihr denn so laut? Geht doch nach draußen, wenn ihr unbedingt herumschreien müsst!« Die ältere Dame im Bus ist sichtlich genervt ob des Verhaltens der 4 laut durcheinander rufenden Schüler Melanie (13), Torben (13), Gerit (12) und Georgina (12). Doch die vier hören nur die Hälfte der Beschwerde: Sie tragen Ohrenstöpsel, um zu erleben, wie sich Schwerhörigkeit »anfühlt«.
Die Aktion ist ein Pilotprojekt des Forum Besser Hören, das nun erstmals in Hamburg durchgeführt wurde. »Da die Hörgeminderten immer jünger werden, wollten wir Jugendliche direkt mit Schwerhörigkeit konfrontieren – und ihnen so verdeutlichen, was es heißt, auf ein einwandfrei funktionierendes Gehör verzichten zu müssen«, beschreibt Birgit Ney vom Forum Besser Hören das Ziel des Projekts. Hierfür wurden die Schüler mit speziellen Ohrstöpseln vom Hamburger Hörgeräte-Akustiker Jürgen Rombkowsky ausgestattet. Die Stöpsel dämpfen das Gehörte um bis zu 30 dB ab und simulieren eine leichte Schwerhörigkeit. In dieser Situation mussten die Schüler Aufgaben des täglichen Lebens erledigen. Wichtig war dabei, dass typische Alltagssituationen nachgestellt werden, bei denen Schwerhörige in der Regel Probleme haben, wie z.B. Hören im Störlärm mit vielen Hintergrundgeräuschen oder Verhalten im Straßenverkehr.
Wie kommen Hörgeminderte mit Hörproblemen im Alltag zurecht? Und wie reagiert die Umwelt, wenn jemand schlecht hört und öfter nachfragen muss? Das sollten die Schüler am eigenen Leib erfahren. Studienrat Markus Gruber von der Kooperativen Gesamtschule Benzenbergweg in Hamburg – Barmbek-Nord war sofort begeistert von der Forum-Initiative: »Die Schüler setzen sich auf ungezwungene Art und Weise mit dem wichtigen Thema Schwerhörigkeit auseinander und lernen gleichzeitig etwas fürs Leben – das kann man theoretisch im Unterricht gar nicht vermitteln.«
Am 6. Februar ging es los: An die 24 Schüler der 7 g wurden je zwei Ohrstöpsel ausgehändigt. Nach anfänglichem Kampf mit den widerspenstigen Stöpseln (»Die hängen wie Würste aus den Ohren«) machten sich die Schüler in Vierergruppen auf den Weg.
Station 1: Filiale der Hamburger Sparkasse; Georgina erkundigt sich ausgiebig nach einem Sparbuch. Die Angestellte beantwortet ihr geduldig alle Fragen. Georgina muss kein einziges Mal nachfragen: »Aber in der Schalterhalle war es auch sehr leise, keine Nebengeräusche oder andere Kunden«, erklärt sie.
Station 2: Fahrradabteilung eines großen Kaufhauses; die Gruppe hat die Aufgabe, Informationen über ein Fahrrad einzuholen. Der Verkäufer entdeckt bei Gerit gleich die Ohrstöpsel, die er – im Gegensatz zu den Mädchen – nicht unter langen Haaren verstecken kann. Die gewünschten Informationen werden mit sehr lauter Stimme vorgetragen: »Das war laut und deutlich, aber wir sind doch nicht taub!« Gerit fühlt sich etwas angegriffen. Dann gibt er jedoch zu: »Wenn der Verkäufer leiser gesprochen hätte, hätte ich bei der Geräuschkulisse im Kaufhaus auch nur die Hälfte verstanden.«
Station 3: Fahrkartenschalter im Bahnhof; der Verkäufer sitzt hinter einer Glasscheibe, seine Stimme ist nur über Lautsprecher zu hören. Manchmal vergisst er, den Lautsprecher anzuschalten, außerdem schaut er die Kinder beim Sprechen nicht an; Georgina und Melanie müssen mehrmals nachfragen. »Der könnte ruhig etwas freundlicher und geduldiger sein«, bemängeln sie.
Station 4: Stadtbücherei; Torben erkundigt sich nach einem Buch über Schwerhörigkeit; in den Räumlichkeiten ist noch eine andere Schulklasse anwesend, der Lärmpegel entsprechend hoch. Die Angestellte ist aber sehr freundlich und begleitet Torben zum entsprechenden Regal. »Wegen der vielen Hintergrundgeräusche habe ich nicht alles verstanden, aber die Hilfsbereitschaft der Dame hat das wettgemacht«, stellt Torben zufrieden fest.
Station 5: Busfahrt; Gerit möchte eine Fahrkarte lösen. »Erwachsener oder Kind?« fragt der Fahrer. Gerit schaut irritiert. Der Fahrer wiederholt seine Frage genervt, bis Gerit sich den Inhalt zusammenreimt und schließlich die richtige Antwort gibt. »Ich habe überhaupt nichts verstanden, neben dem Lärm um mich herum hat der Busfahrer auch noch genuschelt. Und freundlich war der auch nicht gerade«, bemerkt Gerit.
Zurück in der Schule dürfen die Schüler die Ohrstöpsel endlich wieder herausnehmen und tauschen nun ihre Erfahrungen aus: »Ich hätte nicht gedacht, dass man als Schwerhöriger so sehr auf ein entgegenkommendes Verhalten seiner Mitmenschen – lautes und deutliches Sprechen, Geduld – angewiesen ist«, umschreibt Georgina ihre Eindrücke.
Den Unterschied zwischen normal und eingeschränkt hörend bemerkten die Schüler vor allem im Straßenverkehr, in dem sie sich viel unsicherer fühlten als mit intaktem Gehör, und in lauter Umgebung mit vielen Hintergrundgeräuschen. Naturgeräusche wie z.B. Vogelgezwitscher oder auch das Knirschen beim Auftreten der Füße auf dem Sandweg nahmen sie gar nicht mehr wahr. »Alles klingt so dumpf, auch die eigene Stimme. Man hat kein Gefühl mehr für Lautstärke und wird beim Sprechen immer lauter«, stellt Melanie außerdem fest.
Und wie würden sich die Schüler, mit der Erfahrung der Aktion im Hinterkopf, nun gegenüber Schwerhörigen verhalten? Die 24 Jungen und Mädchen sind sich einig: »Es ist ganz wichtig, dass man langsam und deutlich spricht, freundlich bleibt und den Schwerhörigen beim Reden ansieht!«
Wenn nur mehr Menschen so verständnisvoll würden!
Autor: B. N.