Ein Königreich für die Ohren
Eine kleine akustische Sensation wurde vor dem Oldenburger »Haus des Hörens« der Öffentlichkeit übergeben: der »Hör-Thron«. Das imposante Sitzmöbel bietet Passanten neben einem Plätzchen im Grünen insbesondere überraschende Hör-Erlebnisse. Eingeweiht wurde der Thron anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Abteilung »Medizinische Physik« der Carl von Ossietzky Universität.
Am 4. April hatte das erst kürzlich eröffnete »Haus des Hörens« der Universität Oldenburg eingeladen, um zu feiern. Gefeiert wurde das zehnjährige Bestehen der Arbeitsgruppe Medizinische Physik, deren Geburtstag genau genommen der 1. April 1993 war.
An diesem Tag begann der damals frisch ernannte Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. Birger Kollmeier mit seiner Tätigkeit in Oldenburg. Ausgestattet mit der seltenen Gabe, sowohl Mediziner als auch Physiker zu sein, brachte er ideale Voraussetzungen mit, die Forschung rund um das Hören voranzubringen. War in deutschen Landen damals die Audiologie an vielen Universitäten Anhängsel der HNO-Heilkunde oder von vielen Physikern nicht ernst genommener Randbereich, so änderte sich dies in den 80er Jahren. Immer mehr Physiker aber auch Mediziner machten die Audiologie zu ihrem Schwerpunkt, hatten aber oft Schwierigkeiten, im klassischen Uni-Betrieb eigenständig zu arbeiten. Weil ein Klinikdirektor sich von einem Physiker nichts sagen ließ, oder weil ein Physikprofessor von einem Mediziner nichts hielt, weil dieser nicht mindestens 10 Semester Mathematik als Hauptfach studiert hatte. (Das schon klassische Unverständnis dieser beiden Berufsgruppen untereinander zeigt sich zum Beispiel darin, das einige Mediziner bis heute die von allen anderen Naturwissenschaftlern anerkannten Maßeinheiten nicht akzeptieren wollen. So wird der Blutdruck heute immer noch mit Millimeter Quecksilbersäule angegeben (mmHg), während die übrige Wissenschaft seit 1970, spätestens nach Ablauf der Übergangsfristen im Jahre 1978, Druck in Pascal (Pa) angibt. Dafür gibt es sogar ein von Medizinern stets missachtetes »Gesetz über die Einheit im Messwesen«!)
Was unter diesen widrigen Bedingungen im Jahre 1993 am 1. April für manche alteingesessene Wissenschaftler wie ein Aprilscherz wirkte, nämlich Medizin und Physik im Bereich der Audiologie zusammenzubringen, hat sich prächtig entwickelt.
Es begann mit 16 Physiker:innen, die 1993 ihre Arbeitsplätze einrichteten. Die meisten stammten aus dem III. Physikalischen Institut der Georg-August-Universtität Göttingen, die mit zwei Lastwagen voll Material und Ausrüstung nachts in Oldenburg ankamen. Die Computersysteme der Gründerjahre wurden noch selbst gebaut, die Praktiker berichten von nächtelangen »Löt-Exzessen«. Dr. Martin Kinkel (heute bei Firma Kind), einer von den Männern der ersten Stunde, berichtet gar, mangels vorhandenem Werkzeug habe er mit den Zähnen die Kabel isoliert und so kiloweise Isoliermaterial geschluckt.
Der Zusammenhalt gerade aus den ersten Jahren der Oldenburger Gruppe wirkt bis heute – auch für Außenstehende spürbar – nach. Wer Jahre lang unter teilweise primitivsten räumlichen Bedingungen in Containern zusammen erfolgreich gearbeitet hat oder mangels verfügbaren Unterkünften und aus Freundschaft Wohngemeinschaften bildete, den verbindet mehr als nur das gemeinsame Fachgebiet. Vom Geist dieser Gemeinsamkeit war dann auch die ganze Veranstaltung, die trotz offizieller Reden eher an ein Klassentreffen erinnerte, getragen.
Offizielles
Nach einer Begrüßung der rund einhundert Gäste und einem Rückblick durch Prof. Kollmeier wurde die inzwischen weltweit anerkannte Erfolgsgeschichte von verschiedenen offiziellen Rednern gewürdigt. Hans Schröder vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, der Vizepräsident und auch der Dekan der Uni lobten die Aktivität und vor allem das interdisziplinäre Denken der Arbeitsgruppe.
Diverse Absolventen der Oldenburger Schmiede berichteten von ihren Arbeitsgebieten und stellten so die erarbeitete wissenschaftliche Bandbreite dar. Und diese ist beachtlich.
Inzwischen sind ca. 50 Diplome und 30 Doktortitel in der Gruppe erarbeitet worden. Fast alle Hörgeräte-Hersteller sind inzwischen vom »Oldenburger Virus« infiziert, vier Professuren können vermeldet werden; die Familientherapie und auch die Lehrerschaft sind Nutznießer der Wissensschmiede. Viele Absolventen sind der reinen Wissenschaft treu geblieben und forschen weiter im »System Oldenburg«.
Dazu gehört das Hörzentrum Oldenburg, eine GmbH, die von der Uni und dem Evangelischen Krankenhaus Oldenburg gegründet wurde, um einen Technologietransfer zwischen universitärer Forschung und industrieller Anwendung zu ermöglichen. Zum internationalen Kundenstamm zählen fast alle Branchenvertreter der Hörgeräte- und Zubehör-Industrie.
Arbeitsfelder sind Entwicklungen und Evaluierungen von Hörgerätetechniken und audiologischen Testverfahren wie dem Oldenburger Satztest oder dem Oldenburger Kinder-Reimtest.
Das Hörzentrum ist auch der Initiator und Bauherr des »Hauses des Hörens«, in dem alle Aktivitäten der Oldenburger Hörforschung unter einem Dach vereint und koordiniert werden.
Das Kompetenzzentrum für Hörgeräte-Systemtechnik – die Hörtech gGmbH – ist ein weiterer Baustein. Mit Fördermitteln aus Bund und Land im Jahre 2001 gegründet, arbeitet man an der Entwicklung eines neuartigen HiFi-Hörgerätes. Hier werden die neuesten Erkenntnisse über Audiologie und digitale Signalverarbeitung zusammengeführt.
An der Fachhochschule Oldenburg wird seit dem Wintersemester 2000 der Studiengang »Hörtechnik und Audiologie – Master« angeboten. Die Ausbildung ermöglicht eine Tätigkeit in unterschiedlichen Berufsfeldern, von der Hörgerätetechnik bis zur Audio- und Studio-Technik oder zur Telekommunikation.
Die Arbeitsgruppe Medizinische Physik ist der wissenschaftliche Kopf und erforscht die Funktionsweise des Hörens und der Sprache, sowie Prozesse der medizinischen Signalverarbeitung im menschlichen Gehirn. Forschungs-Schwerpunkte der Arbeitsgruppe MEDI sind z.B. die Psychoakustik, die klinische Hördiagnostik sowie die Physik der Sprache und der Sprachwahrnehmung. Die Arbeitsgruppe besteht derzeit aus 40 (!) Mitarbeitern mit einer Reihe von Doktoranden und Diplomanden.
Inoffizielles
Kollmeier und Freunde hatten ein sehr persönliches Programm gestaltet, Fast alle Ehemaligen waren gekommen aus ganz Deutschland, Europa und sogar aus den U.S.A. Dr. Joachim Neumann, eigentlich im Forschungszentrum Eriksholm in Dänemark aktiv, hatte sogar eigens für diesen Geburtstag seinen dreimonatigen Bildungsurlaub in Spanien unterbrochen.
In allen Redebeiträgen wurde deutlich, wie wichtig es allen war, freundschaftliche Bande geschlossen zu haben. Über alle sonst so wichtigen Firmen – oder Institutsgrenzen hinweg wurde gelacht, getratscht und natürlich auch gefachsimpelt. Wobei die Fachfragen neben der Physik auch das Kinderkriegen und -aufziehen, sowie die möglichst effektiven Gehaltsverhandlungen beinhalteten.
Musikalisches
Einstein soll ziemlich gut Geige gespielt haben, Gott sei Dank. (Er soll auch, nach Aussagen von Berliner Freunden, ein hervorragender Claire Walldoff – Imitator gewesen sein; Anm. d. Red.) In den Augen vieler unbedarfter Menschen gelten Physiker als die langweiligsten Typen auf unserem Planeten. Warum? Weil die meisten Zeitgenossen schlicht keine Lust haben, sich mit so spannenden Fragen zu beschäftigen, wie lange die Erde existiert oder wie der Urknall wann und wo und wie laut zu hören war. Oder ob es sein kann, dass ein Baby im Mutterleib Musik hören kann.
Das Baby hört natürlich die Musik, ein Physiker kann genau die Dämpfungsfunktion der Haut- und Fettgewebe-Schicht über dem embryonalen Ohr errechnen.
Und ein Physiker kann natürlich Musik machen, um zu testen, ob es tatsächlich möglich ist, Gefühle nur durch Luftdruckschwankungen zu übermitteln. Fast alle Physiker beherrschen ein Musikinstrument oder sind rhythmisch aktiv. Natürlich auch die Oldenburger. Von Birger Kollmeier ist bekannt, dass er in einer sehr guten Cover-Band den Bass spielt und singt, andere spielen Gitarre, Schlagzeug oder – die Damen – becirzen mit Bauchtanz.
Und so hatte die Musik einen großen Stellenwert am 10. Geburtstag. Die aus Oldenburger Student:innen bestehende Gruppe »Einfach A capella« schaffte es, die offiziellen Gäste zu einem Kanon zu bewegen, der gesamte Saal sang dreistimmig ein altes afrikanisches Volkslied, PataPata, bekannt von Miriam Makeba. »Einfach A capella« begleitete das ganze Programm, von der Eröffnung bis zum offiziellem Ende.
Ausblick
Wer die Aktivität der Oldenburger Gruppe betrachtet, kann sicher sein, dass hier noch viel Wissen geschaffen wird. Die Arbeitsstruktur ist äußerst effektiv, die Aufgabenstellung immer sehr nahe an den Bedürfnissen der potentiellen Anwender. Sowohl zukünftige Hörsysteme, messtechnische Verfahren oder auch Anpass-Strategien sind zu erwarten. Darüber hinaus werden sehr gut ausgebildete Experten zur Verfügung stehen, die in allen Bereichen rund um das Hören helfen können, dem Ziel vom 2. Gehör näher zu kommen.
Autor: Dipl.-Ing. Horst Warncke