Warum kostet ein Hörsystem bis zu 3’000 €, wenn ein Computer schon für den halben Preis zu bekommen ist?
Sind Hörgeräte zu teuer?
Immer wieder wird der Preis von Hörsystemen kritisch betrachtet. Dabei wird der Vorwurf laut, diese Geräte würden zu überhöhten Preisen angeboten.
Begründet wird dieser Vorwurf damit, dass die Höchstpreise moderner Digitalgeräte bei 3’000 € liegen, während Computer als Sonderangebot schon für 1’000 € zu haben sind. Es werden auch andere Preisvergleiche angestellt; vorehmlich mit modernen elektronischen Konsumartikeln wie Handys, MP3-Playern oder Digitalkameras. Dabei wird immer angeführt, dass technisch hochwertige Produkte durchaus preisgünstiger als Hörsysteme sein können.
Wie also lässt sich der verhältnismäßig hohe Preis dieser Geräte erklären? Im vorliegenden Artikel werden die verschiedenen Faktoren betrachtet, die zu Entwicklung, Herstellung, Vertrieb und Anpassung von Hörsystemen notwendig sind.
Wichtig: Alle Zahlenangaben sind beispielhaft, anhand einzelner konkreter Modelle von einzelnen Firmen. Je nach Gerätetyp und/oder Firma können starke Schwankungen auftreten.
Und: Die Preisdarstellung stammt von einem Ingenieur, nicht von kreativen Betriebswirtschaftlern; insofern entspricht diese nicht einer aus Sicht der Finanzämter korrekten Buchhaltung. (Als Beispiel: Wenn eine Industriefirma für 10’000’000 € Bauteile einkauft, so stellen diese 10 Millionen € keine Kosten dar, weil dafür ja ein Warenwert – die Bauteile – in die Buchhaltung einfließen.)
Generell wird in Größenordnungen gerechnet, es wird keine Musterrechnung auf den Eurocent genau präsentiert. Bei Interesse können zumindest bei den börsennotierten Firmen die im Internet veröffentlichten Finanzberichte nachgelesen werden.
Können die Kosten Computer – Hörgerät überhaupt verglichen werden?
Zuallererst muss festgestellt werden, dass der Kostenvergleich Hörsystem/Computer so wie er oben angeführt wurde, überhaupt nicht statthaft ist, weil verschiedene Leistungspakete verglichen werden.
So ist in Deutschland die Anpassung der Hörsysteme auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten im Hörgerätepreis enthalten.
Nach Angaben der Bundesinnung der Hörakustiker KdöR gehört zu dieser Anpassung u.a.:
- Das erste Beratungsgespräch, die anschließende Anamnese
- Information über den Ablauf einer Hörgeräteversorgung
- Erweiterte audiometrische Messungen (Hörfeldskalierung, In situ-Messungen…)
- Durchführung der Ton- und Sprachaudiometrie
- Definition der in Frage kommenden Hörsysteme
- Abdrucknahme, Administration für die Erstellung einer Otoplastik
- Durchführung der vergleichenden Anpassung mit mindestens 3 Hörsystemen
- Erstbewertung des Sprachverstehens, des Hörgeschmacks und Sprachverstehens im Störschall
- Einweisung in den Gebrauch der Hörsysteme bis zur sicheren Bedienung
- Feinanpassung bzw. Optimierung der Hörsystem-Einstellungen unter Verwendung von Messbox und audiologischen Messverfahren wie Hörfeldskalierung und interaktiver Werkzeuge
- Zwischenbewertung der Anpassung hinsichtlich Hörerfolg
- Weitere Feinanpassungs-Sitzungen
- Dokumentation des Hörerfolges durch sprachaudiologische Messungen
- Ausfertigen der formalen Anpassunterlagen Eine 5-jährige(!) Nachsorge mit:
- 10 x Überprüfung der Hörsysteme (2 x pro Jahr)
- 10 x Überprüfung der Handhabung (2 x pro Jahr)
- 10 x Überprüfung des äußeren Ohres mit und ohne Hörsystem auf Druckstellen, Hautreizungen
- Jeweils allgemeine Servicearbeiten wie Schlauchwechsel
- Bei Bedarf weitere Feineinstellungen im Rahmen der gleitenden Anpassung; die dazu notwendigen messtechnischen Untersuchungen.Für alle Arbeiten im Rahmen der Anpassung und fünfjährigen Nachsorge müssen mindesten 10 Stunden Arbeitszeit gerechnet werden. Nach Auskunft der Bundesinnung der Hörgeräte-Akustiker ist mit einem Betriebskosten-Stundensatz von ca. 100 € in einem Meisterbetrieb zu rechnen.
Damit ergeben sich bis zu 1’000 € Kosten in der Anpassung.
Wenn also der Preis eines High End-Hörsystems 2’000 € beträgt, so sind in diesem Beispiel 50 % davon durch Serviceleistungen abgedeckt, die eigentliche Hardware, das Hörsystem, kostet in diesem Falle »nur« 1’000 €.Die Verfälschung beim Preisvergleich Hörsystem/Computer liegt also schon darin, dass beim Hörsystem eine Dienstleistung für fünf Jahre und die Hardware gleichzeitig abgerechnet werden, während der Computerpreis nur ein Hardwarepaket (eventuell mit Software) beinhaltet.Der Computerpreis beinhaltet nicht:
- Die Installation am Arbeitsplatz (kostet extra)
- Die Einbindung in eventuell vorhandene Netzwerke (kostet extra)
- Die Verknüpfung mit bereits genutzten Druckern, Scannern, Internet-Anbindungen (kostet extra)
- Die Schulung für die Software (kostet extra)
- Die Individualisierung der Softwareeinstellungen (kostet extra)
- Den Service (bis auf Gewährleistung kostet dieser extra)
- Nachsorge über fünf Jahre (kostet extra, wenn diese nach 5 Jahren für einen Computer überhaupt noch angeboten wird.)
Hardware-Kostenanteile
Auch wenn der reine Hardwarepreis verglichen wird, kann immer noch argumentiert werden, dass 1’000 € für ein Hörsystem viel Geld sind, wenn für den gleichen Preis ein Computer zu haben ist.
An erster Stelle sind die Kosten für Forschung und Entwicklung zu nennen.
Forschung und Entwicklung (F+E)
Die Kosten für die Entwicklung sind in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen. So wird von Industrieseite vermeldet, dass ein Hörsystem bis zu 50 Millionen € in der Entwicklung kostet. Bei einem großen dänischen Hersteller haben sich innerhalb von 10 Jahren die F+E – Kosten von 6 auf 36.7 Millionen € pro Jahr entwickelt.
Warum steigen die Kosten in dieser Form?
Seit Einführung der Digitalgeräte ist die Entwicklung der Hörsysteme immer aufwändiger geworden. Dafür gibt es verschiedene Gründe:
- Kein Zweitnutzen
Im Moment stehen zur Energieversorgung der Hörsysteme nur die so genannten Knopfzellen, also kleine Batterien, zur Verfügung. Da aus unterschiedlichen Gründen die Geräte so klein wie möglich sein sollen, sind denkbare Lösungen mit größeren Akkus oder mit mehreren Batterien (um auf höhere Spannungen zu kommen) am Markt nicht zu verkaufen. Also müssen die Chips, die in Hörsystemen verwendet werden, mit minimalem (möglichst unter 1 mA) Stromverbrauch arbeiten, bei Spannungen um 1 Volt. Unter anderem, um auf diese Werte zu kommen, werden speziell für die Hörsysteme eigene Chips entwickelt, die nirgends sonst eine Verwendung finden. - Die Chips werden leistungsfähiger
Durch Neuentwicklung der Produktionstechnik verdoppelt sich die Leistungsfähigkeit der Chips alle 2 Jahre. (Gleichzeitig können sie jeweils verkleinert werden – wobei hier absehbar ist, dass in einigen Jahren eine physikalische Grenze erreicht sein wird.) Will man diese neuen Chips verwenden, müssen alle denkbaren Funktionalitäten durchgespielt und getestet werden. Der Entwicklungsaufwand für das jeweils neue Chip-Design steigt damit ebenfalls an. - Alle zwei Jahre neue Chip-Generation
Weltweit gibt es nur relativ wenige Produktionsstätten für Chips. Diese verfügen jeweils über die neueste Produktionstechnik, die immense Summen kostet. Nur bei möglichst voller Auslastung dieser Technik lohnt sich überhaupt so eine Chip-Fabrik. (Weshalb auch schon mal eine Milliarden Euro teure neue Fabrik geschlossen wird, weil das »billiger« ist, als diese unausgelastet weiterzuführen.)
Um im internationalen Wettstreit mithalten zu können, muss jeweils die neueste Produktionstechnik zur Verfügung stehen. Ist diese installiert, steht nach einer kurzen Übergangszeit die alte Technik nicht mehr zur Verfügung. Damit kann ein »alter« Chip mit der neuen Produktionstechnik nicht mehr nachgebaut werden; er müsste für diese Technik komplett neu »designed« werden. Also steht nur ein relativ kurzes Zeitfenster von einigen Jahren zur Verfügung, in dem ein bestimmtes Chip-Design produziert werden kann. Für dieses Zeitfenster muss die Entwicklung punktgenau fertig sein, weil sie nur dann auch produziert werden kann.
In diesem Zeitfenster drängeln sich die verschiedensten Auftraggeber; Computerfirmen, Hersteller von Kfz, Elektronik oder auch Handys. Hier werden natürlich erst die Aufträge für Massenprodukte angenommen, die auch günstige Randbedingungen aufweisen. Dazu gehört die höhere Versorgungsspannung, die z.B. in Computern zur Verfügung steht, und auch die höhere Stromaufnahme, die dort akzeptiert wird.Wie noch gezeigt wird, sind die Stückzahlen der Hörgeräte-Industrie extrem klein, weshalb es sehr schwierig ist, überhaupt Produktionskapazitäten zu erhalten. Weil erst die Massenprodukte gefertigt werden, bleibt nur ein Zeitfenster von weniger als einem Jahr, um die Hörgerätechips zu produzieren. Wenn ein Produktionsauftrag platziert werden kann, müssen alle Chips, die je von diesem Typ benötigt werden, in einem Durchgang produziert werden, damit sich die Einrichtung der Maschinen überhaupt lohnt. Reicht die produzierte Menge nicht aus, weil vor Verkaufsstopp des Hörgerätetyps mehr verkauft wurde als geplant, muss ein neues Chip-Design für die nächste Produktionstechnik her. Das ist auch der Grund, warum es von fast allen Herstellern Gerätetypen der Generation Il gibt. Es ist schlicht nicht möglich, ein erfolgreiches Gerät weiter zu produzieren, es muss neu konstruiert werden.
(Das kurze Produktions-Zeitfenster hat auch noch andere Folgen: Fast jeder Hersteller hat es schon erlebt, dass er ein Gerät auf einer Messe ankündigt, dann die Entwicklung aber nicht »punktgenau« fertig ist, oder aber eine vereinbarte Produktionskapazität nicht zur Verfügung steht. Wenn es dann nicht gelingt, einen Alternativtermin für die Produktion zu bekommen, ist es im schlimmsten Fall nicht mehr möglich, das Gerät in bereits entwickelter Form auf den Markt zu bringen – es muss dann für die nächste Chipgeneration neu entwickelt werden. Die Folge ist, dass dieses Hörsystem dann erst deutlich später, manchmal um ein Jahr und länger verzögert, verkauft werden kann.) - Kürzere Produktzyklen
Konnte noch vor wenigen Jahren ein gutes Gerät über viele Jahre verkauft werden, gilt heute ein Digital-Gerät schon nach zwei bis drei Jahren als »alt«. Die Folge: Früher wurden manche Typen über 15 Jahre und länger angeboten; Digitalgeräte sind schon nach wenigen Jahren nicht mehr zu verkaufen. - Geringe Stückzahlen
Weltweit werden zur Zeit pro Jahr 6 – 7 Millionen Hörsysteme von insgesamt 14 Herstellern verkauft. Die einzelnen Hersteller haben bis zu 30 verschiedene Typen im Programm, so dass es Hörsysteme gibt, die weltweit pro Jahr nur 5’000 mal verkauft werden.Ein großer Hersteller stellt im Jahr ca. 500’000 Geräte her. Nach neuesten Angaben der Deutschen Vereinigung der Hörgeräteindustrie (VHI) werden ca. 10 % der Geräte im High End-Sektor, der höchsten Preisklasse, verkauft.
Bei einer Generationszeit von 3 Jahren können also maximal 150’000 Geräte der Spitzenklasse von diesem Hersteller verkauft werden. - Sind 150’000 viel in der Chip-Industrie?
Die Chips in Hörsystemen haben einen genau definierten Einsatzzweck, sie werden nur für diese Geräte gefertigt. Ähnliche Chips (»Micro-Controler«) gibt es massenhaft auch in Kraftfahrzeugen, zum Beispiel für die Sensorsteuerung von Airbag, Antiblockiersystemen oder Gurtstraffern.
Vergleicht man die Produktionszahlen dieser Micro-Controler (keine Speicher- oder Prozessor-Chips), so wurden hier im Jahre 2002 nach Angabe des ZentralVerbandes der Elektro- und Digital-Industrie e.V. (ZVEI) weltweit 78’500’000’000 Stück (78,5 Mrd.) hergestellt. Dagegen sind 150’000 eine Summe, die fast gegen 0 geht. So könnte der gesamte Jahresbedarf an Hörgeräte-Chips von allen Herstellern zusammen in einer Chipfabrik an einem halben Tag hergestellt werden.
Da die Firmen aber in Konkurrenz zueinander stehen und auch viele verschiedene Chiptypen pro Firma verwendet werden, werden an verschiedenen Standorten Kleinstmengen von Chips hergestellt.
Kosten für Hörsysteme
Wie schon gezeigt, können die Entwicklungskosten für Spitzengeräte 50 Millionen € betragen. Bei einer Stückzahl von nur 150’000 Chips kommen in dieser Beispielrechnung auf einen einzigen Chip 333.33 € Entwicklungskosten!
Dann ist dieser Chip aber erst entwickelt, noch nicht produziert, noch nicht zum Hörsystem komplettiert und noch nicht im Geschäft des Hörgeräte-Akustikers.
Es folgt also eine lange Liste von weiteren Kostenanteilen:
Der Chip muss produziert werden
Wie oben schon gezeigt, sind die zu produzierenden Stückzahlen für die Chip-Industrie lächerlich gering. Insofern ist die Hörgeräte-Industrie kein wichtiger Kunde für einen Chip-Produzenten. Erst wenn alle Massenproduktionen zum Beispiel für die Kraftfahrzeug– und Computer-Industrie abgearbeitet sind, wenn die nächste Generation von Chiptechnologie schon bereit steht, werden die Hörsystem-Chips gefertigt, quasi als Restverwertung der Produktionstechnik, bevor sie endgültig verschrottet wird. Das ist dann das kurze Zeitfenster, in das punktgenau hinein entwickelt werden muss. Hier treten die nächsten Probleme auf: Ein am Rechner konstruierter Chip muss natürlich auch praktisch erprobt werden. Die Schaltungen sind zwar alle schon getestet, mit teilweise kiloschweren Prototypen, aufgebaut aus Standard-Bauteilen.
Aber ob der millimetergroße Chip genauso funktioniert, kann erst getestet werden, wenn dieser tatsächlich existiert. Ein großes Problem der Hörgerätechips ist zum Beispiel, dass bei den geringen Spannungen, mit denen gearbeitet wird, schon ein geringstes »Leck« zu Fehlfunktionen führt. Mit einem Leck wird das Problem beschrieben, dass jeder elektrische Leiter um sich ein elektromagnetisches Feld aufbaut. Dieses Feld kann wiederum Ströme in anderen elektrischen Leitern induzieren. Dadurch kann ein Leistungsverlust und eben auch eine Fehlfunktion entstehen. Im Moment liegt die dichteste Packungsdichte der einzelnen Strukturen auf dem Chip bei 0.13 µm; damit ist die Wahrscheinlichkeit dieses elektromagnetischen Lecks sehr groß und wird mit jeder neuen Chipgeneration noch weiter steigen.
Um die Funktionsfähigkeit der Chips zu testen, müssen diese also produziert werden. Allein die Einrichtung der Maschinen für die Chip-Produktion der Generation »A« kostet ca. 400’000 €. Wird hier ein Fehler – hoffentlich vor Markteinführung – festgestellt, folgt Generation »B«, wieder mit 400’000 € Einrichtungskosten. Die Spitzenleistung der Entwickler liegt im Moment darin, tatsächlich schon mit Generation »B« auf den Markt zu kommen. Es gibt aber auch Berichte, dass Generation »G« oder sogar »H« erst fehlerfrei liefen. In der Version »H« fallen dann also schon insgesamt 3.2 Millionen € Einrichtungskosten an, nur um mit der Produktion beginnen zu können.
Weitere Bauteile und Komponenten müssen produziert oder eingekauft werden
Auch wenn die Chipkosten insgesamt den größten Anteil am Entstehungspreis der reinen Hardware haben, müssen noch weitere Bauteile hinzugefügt werden. Die wichtigsten sind Mikrofon und Lautsprecher, die in Anlehnung an die Telefontechnologie auch Hörer genannt werden. Diese Kosten werden in der Diskussion gerne vernachlässigt, weil behauptet wird, in allen Hörsystemen seien die gleichen Schallwandler zu finden. Dem ist nicht so. Die große amerikanische Firma knowles Electronics, LLC produziert tatsächlich die meisten dieser Bauteile, doch es gibt hier natürlich diverse Typen in diversen Qualitäten, die auch noch mit unterschiedlichen Toleranzen verkauft werden. Hinzu kommt, dass es noch mindestens zwei weitere Firmen gibt, Tibbetts aus Großbritannien und Micro-Tronic aus Dänemark, die ebenfalls Schallwandler produzieren. Und: Auch in diesem Bereich gibt es Hörgerätefirmen, die eigene Mikrofone und Hörer für spezielle Einsatzzwecke entwickeln, die natürlich nicht mit einer Massenware vergleichbar sind. Dadurch kann es zur Verdopplung der Preise pro Bauteil kommen. Die Schallwandler müssen noch in speziellen Lagerungen untergebracht werden, Schalter, Telefonspulen, Batterieladen und weitere Gehäuseteile müssen produziert oder eingekauft werden.
Die Gehäuseteile, scheinbar aus billigem »Plastik«, sind ein nicht zu unterschätzender Kostenfaktor. Die Geräte müssen größte Belastungen aushalten, werden jahrelang getragen, sind Schweiß, Haarspray und Gel ausgesetzt; Sonne und Regen, Stürze aus 2 Meter Höhe auf den gefliesten Badezimmerboden sind weitere Belastungsfaktoren. Um all diese Umweltfaktoren über Jahre ohne Qualitätseinbußen oder gar Ausfälle der Geräte zu überstehen, ist eine stabile Umhüllung der Technik notwendig. Und so wird das Gehäuse zum »Überlebens-Anzug« in einer technik-feindlichen Umwelt. Um eine Hörsystem-Schale herzustellen, müssen 25 bis 35 Spritzguss-Werkzeuge hergestellt werden, jedes mit einem Kostenaufwand von bis zu 85’000 €. Damit sind die Werkzeugkosten nur für ein Hörgeräte-Gehäuse mit 2 – 3 Millionen € anzusetzen.
Die Geräte müssen produziert/montiert werden
Sind alle Bauteile beisammen, hat man einen Haufen diverser Einzelteile, aber noch kein Hörsystem. Da im Industriemaßstab die Stückzahlen der Geräteserien relativ gering sind, gleichzeitig die Produktion hochpräzise ablaufen muss, werden die meisten Hörsysteme noch von Hand gefertigt, ein sehr zeit- und kostenintensives Verfahren. Weil die Montagekosten für High End- und Basis-Geräte im Wesentlichen gleich sind, stellen diese gerade bei preisgünstigen Geräten einen erheblichen Faktor dar. Je nach Gerätesystem können diese bis zu 1/3 des Hardwarepreises ausmachen.
Die Software muss entwickelt werden
Speziell der Kostenaufwand, der für die Software notwendig ist, übersteigt in vielen Fällen den reinen Hardware-Anteil. So werden in großen Hörgerätefirmen 30 – 40 Programmierer beschäftigt, Fachkräfte, die weltweit gesucht werden und entsprechendes Geld verdienen. Da die Software zur Anpassung der Hörsysteme nicht von den Krankenkassen übernommen wird, muss dieser Kostenanteil in den Hardwarepreis eingerechnet werden. Softwarekosten von mehreren Millionen € entstehen so pro Jahr und Firma. Eine neue Software wird bei großen Firmen im Halbjahrestakt entwickelt, um alle neuen Gerätetypen unterzubringen. Die Software kann leicht so teuer werden, dass der Akustiker pro Update und Arbeitsplatz 500 € Lizenzgebühr zahlen müsste. Auch diese Kosten sind im Preis für die Hörsysteme enthalten.
Wenn alle diese Kosten aufgebracht sind, ist die Hard- und Software fertig – in der Fabrik!
Das Hörsystem muss aber nun noch weltweit vertrieben werden, damit ergeben sich weitere Kosten.
Vertriebskosten
Die Geräte müssen nach dem Medizin-Produkte – Gesetz (MPG) zugelassen werden. Die zu erfüllenden Kriterien zum in den Verkehr bringen und zur Inbetriebnahme sind zwar inzwischen europaweit, teilweise sogar weltweit, harmonisiert worden, insofern müssten diese Kosten eigentlich sinken.
Hier wurde beim Harmonisieren allerdings übersehen, dass in den jeweiligen Ländern viele Menschen sitzen, deren Arbeitsplätze direkt vom nationalen Zulassungswesen abhängen. Und diese sorgen in Deutschland zum Beispiel dafür, dass ein Gerät, welches in Dänemark schon entsprechend dem Medizin-Produkte – Gesetz messtechnisch überprüft wurde, hierzulande noch einmal gemessen wird. Es werden große Stapel Papier zwischen den Krankenkassen, dem Medizinischen Dienst und weiteren Institutionen hin und her geschickt; meistens, ohne dass ein Sachbearbeiter die Angaben in diesen Papieren überhaupt überprüfen kann, weil zum Beispiel die entsprechende Messtechnik nicht vorhanden ist. Durch dieses Verhalten kann es in Deutschland bis zu einem Jahr (Stand 2002) dauern, bis es zur Veröffentlichung einer Positionsnummer im Hilfsmittelverzeichnis für ein längst geprüftes Gerät kommt, nachdem es einmal in der nationalen »Zulassungs-Pipeline« verschwunden ist.
Da vor Veröffentlichung der Positionsnummer die Geräte von den Krankenkassen nicht abgerechnet werden, kommt diese Verzögerung einem Verkaufsverbot gleich, obgleich diese Geräte nach den europäischen Kriterien sehr wohl in Deutschland verkauft werden dürfen.
Durch dieses Zulassungsverhalten werden die damit verbundenen Kosten nicht, wie geplant, europaweit gesenkt, sondern bewusst in die Höhe getrieben.
Hierzu eine Beispielrechnung:
Wie schon erläutert, sind Entwicklungskosten bis zu 50 Millionen € für neue High End – Geräte eine realistische Summe. Wenn diese Geräte um ein Jahr verzögert in den Verkauf gelangen, können also auch die Entwicklungskosten nicht amortisiert werden. Statt dessen müssten diese Kosten wie ein Kredit betrachtet werden, der mit entsprechenden Zinsen bezahlt werden muss. Bei 8 % Zinsen fallen in einem Jahr 4 Millionen € an zusätzlichen Kosten an.
Damit wird das entsprechende Gerät (bei einer geschätzten Stückzahl von 150’000 verkauften Geräten) pro Stück um ca. 27 € teurer – weil der Amtsschimmel wiehert.
Dazu kommen noch die eigentlichen Kosten für die zusätzlichen Arbeiten und Messungen zur Zulassung, die einige zehntausend € betragen.
Lagerhaltung
Heute ist es üblich, »Just in time« zu liefern. Die Zeiten, in denen sich Hörakustiker auf einer Messe mit dem Jahresbedarf an Hörgeräten eingedeckt haben, sind vorbei. Damit muss die Industrie die Geräte immer im Lager vorrätig halten, damit diese »on demant« sofort geliefert werden können.
Ein nicht ausgeliefertes Gerät ist gleichzusetzen mit einem nicht verkauften Gerät, da der Akustiker seine Kunden nicht warten lassen möchte – bei Lieferschwierigkeiten wird er auf ein anderes Produkt ausweichen. Somit versuchen die Industrie-Firmen, immer eine volle Lieferfähigkeit sicherzustellen, mit entsprechenden Kosten durch gebundenes Kapital und die eigentliche Lagerhaltung. Diese Kosten fließen voll in den Kaufpreis ein.
(Diese Kosten gab es vorher auch, als Lagerkosten beim Akustiker; insofern hat hier nur eine Kostenverschiebung stattgefunden.)
Aufbau des Service-Netzes
Genau wie die Lieferung von Geräten sofort erfolgen muss, wird Schnelligkeit auch beim Service erwartet. Das heißt, die Industriefirmen haben relativ große Reparatur-Werkstätten mit entsprechend vielen Mitarbeitern. Diese sind im Sommer meist völlig überlastet, weil die schweißtreibende Jahreszeit die Geräte unter »Wasser« setzt und damit die Ausfallrate steigt. Im Winter droht ein Leerlauf, weshalb die Personalchefs in dieser Zeit ziemlich nervös werden. In praktisch allen Hörgerätefirmen werden die Werkstätten als Servicebetrieb angesehen, die nicht immer kostendeckend betrieben werden können.
Die anfallenden Mehrkosten sind im Kaufpreis einkalkuliert.
Schulungen
Heutige digitale High End – Geräte sind mit vielfältigsten Fähigkeiten ausgestattet. Damit diese für die Patienten auch als Vorteil erlebt werden, muss die Anpass-Software optimal eingesetzt werden.
Dafür werden in regelmäßigen Abständen für die Akustiker kostenfreie Schulungen angeboten. Die tatsächlich entstehenden Kosten für Veranstaltungsräume, Technik, Referenten und Schulungsmaterial sind mit mindestens 150 bis 200 € pro Person und Tag anzusetzen.
Große Firmen haben in Deutschland bis zu 1’000 Teilnehmer pro Jahr in ihren Fortbildungsseminaren, auch diese Kosten müssen über den Preis der Hörsysteme gedeckt werden.
Hotline
Wie schon beschrieben, ist die Digitaltechnik sehr komplex. Damit ist ein permanenter Schulungsbedarf gegeben – in Seminaren und am Telefon, der so genannten »Hotline«.
Große Firmen beschäftigen hierzulande bis zu 5 gut ausgebildete (und damit auch gut bezahlte) Mitarbeiter für diese Aufgabe. Da die telefonischen Auskünfte gebührenfrei sind, müssen die Lohn- und Lohnneben-Kosten ebenfalls in den Gerätepreis einfließen.
Anteilige Rücknahmekosten
In Deutschland ist die vergleichende Anpassung Pflicht, was zur Folge hat, dass die nicht verkauften Geräte in vielen Fällen zum Hersteller zurückgesandt werden. Dieser muss die Technik in den funktionalen Neuzustand bringen. Pro Rückgabe kostet das ca. 50 € bei Hinter-dem- Ohr-Geräten. Für Im-Ohr-Geräte fallen ca. 75 € an. Je nach Geschäftspolitik liegt die Rückgabequote im besten Falle unter 5 %. Von Im-Ohr-Herstellern werden aber auch Zahlen bis zu 30 % genannt. Insofern muss auch der Preis für die vergleichende Anpassung, nämlich die Rückgabekosten, gezahlt werden.
Steuern
Wer ein Gewerbe betreibt, muss Steuern zahlen. Diese sind international sehr unterschiedlich anzusetzen. In den Geschäftsberichten der börsennotierten Herstellerfirmen können die Informationen über gezahlte Steuern nachgelesen werden.
Gewinn, Rückstellung für weitere F+E
Um die erheblichen Kosten für weitere Entwicklungen aufzubringen, müssen Gewinne erwirtschaftet werden. Diese haben je nach Firma einen Anteil von ca. 4 – 10 % vom Hörgerätepreis. Auch diese Angaben können in den Geschäftsberichten nachgelesen werden.
Summe der Kosten
Aus den oben genannten Einzelposten setzen sich die gesamten Kosten für die Entwicklung, Produktion und den Vertrieb zusammen.
Hardware-Preisfindung
Um zu einem Stückpreis zu kommen, muss die Summe der Kosten durch die kalkulierte Stückzahl dividiert werden.
(Für die Finanzexperten: Hier folgt wieder die Ingenieur-Buchhaltung.)
Die angestrebte Stückzahl hängt von diversen Faktoren ab, sie ist oft auch von Wunschdenken geprägt und mit einem sehr großen Kalkulationsrisiko behaftet.
Stückzahl
Der Einsatzbereich der Geräte hat einen sehr großen Einfluss auf die Stückzahlen. Universalgeräte mit großer Flexibilität lassen sich naturgemäß häufiger einsetzen als Spezialgeräte, zum Beispiel nur für Hochton- oder Superpower-Versorgungen.
Der Produktzyklus ist ein weiterer wichtiger Faktor. Konnte früher ein Gerät bis zu 15 Jahre lang verkauft werden, sind High End – Geräte schon nach drei Jahren »alt« und lassen sich fast nicht mehr absetzen.
Das Preis-/Leistungsverhältnis für die Akustiker ist wichtig. Wie groß ist der Anpassaufwand? Welche Lagerkosten entstehen? Gibt es Verkaufshilfen oder Werbeunterstützung? Wie groß ist die zu erwartende Marge? Dies sind alles Punkte, die einen Einfluss auf das Einkaufsverhalten der Hörakustiker haben.
Natürlich ist auch das Preis-/Leistungsverhältnis für die Träger der Geräte wichtig.
Der Grad der erlebten Hilfe, die Bedienung, der Komfort, der Batterieverbrauch und natürlich kosmetische Aspekte haben einen Einfluss auf den Kaufentscheid.
Praktisches Beispiel
Ein großer Hersteller stellt im Jahr 500’000 Geräte her. Davon sind 10 % (50’000) High End-Geräte, die drei Jahre lang verkauft werden können. Somit ergeben sich 150’000 Geräte dieses Typs als kalkulierte Stückzahl. Zu den für dieses Beispiel schon genannten Entwicklungskosten von ca. 333 € pro Stück kommen jetzt noch die vorgenannten Kosten für Produktion und Vertrieb. Diese können insgesamt sehr hoch sein, so dass sich Preise ergeben, die bis zu 1’000 € für ein Hörsystem betragen. Grob kann von einer Drittelung der Anteile für Forschung und Entwicklung, für Produktion und für Vertrieb ausgegangen werden. Mit den Kosten für die Dienstleistung ergibt sich so ein Spitzenpreis von 2’000 € für ein Hörsystem mit Anpassung.
Wie wird es weitergehen?
Wie bei der Betrachtung der Entwicklungskosten sehr gut zu sehen ist, werden diese weiter steigen.
Ebenso werden die Kosten für die Produktion steigen, da der Qualitätsanspruch für technische Güter ständig steigt. Weil die Hörsysteme immer aufwändiger werden, steigen auch die Vertriebskosten (zum Beispiel durch den Schulungs- und Hotline-Aufwand), die einen erheblichen Anteil am Preis haben.
Die Hörsysteme werden also noch weiter im Preis klettern – bei steigender Qualität.
Wie schnell diese Entwicklung vorangehen kann, war in den letzten Jahren seit Einführung der Digitalgeräte sehr gut zu beobachten. Diese Geschwindigkeit in der Innovationsdichte wird sich noch steigern – zum Nutzen der Hörgeräteträger.
Dass die Kosten dabei steigen, ist der Preis, der für den Fortschritt bezahlt werden muss.
Damit diese Kostensteigerungen im moderaten Rahmen bleiben, versuchen die Hersteller, auf größere Stückzahlen in der Produktion zu kommen. Dies geschieht, indem die Geräte flexibler im Einsatz werden und dadurch, dass Firmen aufgekauft werden. Somit können Produktionen zusammengelegt werden und so der Marktanteil der einzelnen Firma – und damit die Stückzahlen – steigen. Die Produktion der Geräte wird immer weiter automatisiert, es wird versucht, die Chips multifunktionell zu entwickeln zum Einsatz in verschiedenen Geräten.
Wie gezeigt haben sich die Ausgaben für die Forschung und Entwicklung in den letzten 10 Jahren versechsfacht, die Kosten für Spitzengeräte sind aber nur um den Faktor 1.6 gestiegen.
Hierbei ist wichtig, dass nur die Spitzengeräte im Preis langsam steigen. Diese werden, wie eingangs schon beschrieben, aber nur mit einem Marktanteil von 10 % in Deutschland verkauft.
25 % aller Geräte werden im Basisbereich zu den Festbeträgen der Krankenkassen abgerechnet (bis 500 € pro Gerät), also ohne Zuzahlung durch die Patienten. 50 % aller Geräte werden im mittleren Preissegment verkauft, 15 % im Bereich der oberen Mittelkasse (Quelle VHI).
In den unteren Preissegmenten sind die Verkaufspreise stabil geblieben, bei ständig steigender Qualität. So werden heute im Basisbereich Geräte angeboten, die praktisch nicht mehr kaputt gehen, also eine bislang undenkbare mechanische Qualität aufweisen.
Aber auch die audiologische Qualität dieser Geräte ist heute so groß, wie die der Spitzengeräte vor ca. 10 Jahren. Diverse Ausstattungsmerkmale, die früher nur in den oberen Preisklassen zu finden waren, sind heute im Basisbereich Standard. Elektromagnetische Abschirmung gegenüber Handystörungen, Digitaltechnik zur Anpassung, Rückkopplungs-Unterdrückungs – Systeme, niedrige Werte für Eigenrauschen und Verzerrung und große Anpass-Flexibilität werden hier geliefert.
Qualität steigt sprunghaft bei gleich bleibenden Preisen
Nur die Preise für Spitzenprodukte steigen moderat, in den anderen Geräteklassen erhält der Patient bei stabilen Preisen ständig steigende Qualität.
Zusammenfassung
Die Frage, warum ein Hörsystem bis zu 2’000 € kostet, wenn ein Computer für den halben Preis zu bekommen ist, ist leicht beantwortet.
Der Preis für das Hörsystem beinhaltet ca. 1’000 € für Dienstleistungen, die im Rahmen der Anpassung und Nachsorge über fünf Jahre erbracht werden. Das verfälscht den Preisvergleich mit Computern, die typischerweise ohne jegliche Dienstleistung angeboten werden.
Die Hardware selbst, das Hörsystem ohne Dienstleistung, kostet bis zu 1’000 €.
Die Hardware ist verhältnismäßig teuer, weil:
- die Entwicklung der Hörsysteme und der zugehörigen Software extrem teuer ist,
- die Stückzahlen verschwindend gering sind (im Vergleich zu anderen Industriebereichen),
- dadurch die Produktion sehr teuer ist und
- der Vertrieb der erklärungsbedürftigen Produkte sehr teuer ist.1’000 € ist allerdings ein Spitzenpreis für High End – Geräte, deren Marktanteil in Deutschland im Jahr 2002 bei 10 % lag.
Alle anderen Geräte waren also deutlich preisgünstiger; 25 % der Geräte wurden sogar angepasst, ohne jegliche Zuzahlung durch die Patienten. Weil die neu entwickelten preisgünstigen Geräte heute Fähigkeiten haben wie die High End – Geräte vor zehn Jahren, kommen also auch die 90 % der Kunden, die sich nicht der 2’000 € – Geräte bedienen, in den Genuss neuer Hörqualität.
Autor: Horst Warncke
Dipl.-Ing. Horst Warncke ist nicht nur Technischer Leiter der Firma Oticon Hamburg, sondern unseren Lesern auch durch zahlreiche ebenso kompetente wie eloquente Fachbeiträge bestens bekannt. Zum Thema dieses Artikels hielt er ein Referat auf der Grundsatz-Tagung 2003 des FDH e.V. in Baden-Baden. Wir baten ihn um eine modifizierte Fassung zu diesem brisanten, in der Öffentlichkeit viel zu wenig bekannten Thema.