Das Zieldreieck aus optimaler Diskrimination, angenehmem Hören und individueller Schwerpunkt-Betonung
Der größte Anteil der Erstversorgungen mit Hörgeräten betrifft Menschen im Alter von über 60 bis 65 Jahren, die an der so genannten Alters-Schwerhörigkeit leiden. Eine weitere große Gruppe bilden diejenigen, die durch lang anhaltende Lärmbelastung, teils im Beruf, teils außerberuflich, schwerhörig geworden sind. Beiden Gruppen gemeinsam ist, dass sich eine Innenohr-Schwerhörigkeit, zunehmend in den höheren Frequenzen, lange Zeit unbemerkt und verdrängt, über Jahre und Jahrzehnte langsam schleichend ausgebildet hat. Damit verbunden ist immer eine zunehmende Entwöhnung (Deprivation) für die höherfrequenten »normalen« Geräusch-Anteile unserer Umgebung und der Sprache.
Wer an einer solchen Innenohr – Hochton-Schwerhörigkeit leidet, der hört vorwiegend dumpfe, tieftonige Geräusche und Sprachanteile; er hört aber nicht mehr die Tür- oder Telefon-Klingel, er hört keine Grille mehr zirpen, er wird auch die meisten Vogelstimmen nicht mehr hören; vor allem aber klingt für ihn die Sprache seiner Mitmenschen zunehmend dumpf. Und schließlich mit fortschreitendem Verlust des Gehörs für die Zisch-, Plosiv- und Reibe-Laute der Sprache wird diese zunehmend weniger verständlich.
Moderne Hörgeräte sind durchaus in der Lage, diesen Hochtonverlust gezielt und abgestuft für jeden Frequenzbereich weitestgehend auszugleichen. So allerdings mit der vollen Leistung des Hörgerätes, mit all den seit Jahren bis Jahrzehnten nicht mehr gehörten hohen Tönen und Geräuschen konfrontiert, wird der Hörbehinderte das Hörgerät schrill, zu laut und schlicht unerträglich ablehnen.
Die Hörgeräte-Anpassung muss ein Zieldreieck berücksichtigen: Das Gerät soll neben einer Verbesserung bei individuellen Schwerpunkten des Patienten (z.B. Musikhören) vor allem ein gutes Sprachverstehen erbringen und dabei ein stets angenehmes Hören gewährleisten. Wird dieses angenehme Hören nicht genügend berücksichtigt, so wird das Hörgerät abgelehnt oder nicht getragen werden (Schubladengerät).
Der Problemlösung dient die so genannte »gleitende Anpassung«. So wie die »Entwöhnung« des Hörens vor allem hoher Frequenzen schrittweise schleichend über Jahre fortgeschritten war, so muss das »Wiedergewöhnen« an diese Töne und Geräusche in kleinen Schritten erfolgen; das ist ein Lernprozess, der ein geduldiges und immer wieder nur geringes Nachstellen der Verstärkung und gegebenenfalls der Kompression in den kritischen Bereichen verlangt; dies kann Wochen und auch Monate, in Ausnahmefällen bis zu einem Jahr erfordern. Es ist eine erfahrungsgemäß nahe liegende Tatsache, dass dieser Prozess um so länger dauern kann, je länger die Hörbehinderung bereits besteht und je älter der Patient dabei inzwischen geworden ist, verbunden mit einem normalen Nachlassen der Lernfähigkeit.
In schwierigen Fällen sollte dieser Lernprozess gegebenenfalls durch ein Hörtraining oder Kommunikationstraining gefördert werden.
Autor: Prof. Dr. med. Klaus Seifert