Der Begründer der deutschen Sprachaudiometrie
Am 27. Juli 2003 verstarb Prof. Dr. Karl-Heinz Hahlbrock im Alter von 85 Jahren. Auf den Tag genau, am 27. Juli 1953, also 50 Jahre zuvor, war im Archiv für Ohren-, Nasen- und Kehlkopf-Heilkunde im 6. Heft des 162. Jahrganges seine epochale Arbeit »Über Sprachaudiometrie und neue Wörterteste« erschienen. Damit wurde Hahlbrock zum Begründer der deutschen Sprachaudiometrie und hat auf Anhieb ein Werk geschaffen, das bis heute Bestand hat und täglich in allen HNO-Kliniken und -Arztpraxen, ebenso wie bei den Hörgeräte-Akustikern zum Einsatz kommt. Dies sollte Anlass sein, etwas über die Geschichte der Hörprüfungen mit Sprache in Erinnerung zu rufen. Zuvor aber einige Daten zum Lebenslauf des Verstorbenen:
Karl-Heinz Hahlbrock wurde am 14. 10. 1917 in Hameln an der Weser geboren, machte dort sein Abitur und begann noch vor Kriegsausbruch das Medizinstudium in Freiburg. Dieses wurde, unterbrochen von Wehrdienst-Übungen, 1944 mit dem Staatsexamen und der Promotion abgeschlossen. Er kam als Truppenarzt an die Ostfront und geriet bei Kriegsende in russische / tschechische Gefangenschaft, zunächst in das Zuchthaus Ruzyně in Prag, dann wurde er bis zum Herbst 1946 zur Zwangsarbeit im Uranbergwerk Jáchymov (früher St. Joachimsthal) eingesetzt. Nach seiner Entlassung 1947 arbeitete er ein Jahr lang in der Pathologie in Bremen und ging schließlich 1948 an die Uniklinik Freiburg – Klinik für Hals-, Nasen- und Ohren-Heilkunde zu Prof. Fritz Zöllner, der nach dem Ableben des bisherigen Direktors Otto Kahler auf den dortigen Lehrstuhl berufen worden war. Die Klinik war völlig ausgebombt, so dass nur in einem Waisenhaus in Freiburg-Günterstal ein notdürftiger Betrieb aufrecht erhalten werden konnte.
Aber die Klinik wurde zügig wieder aufgebaut und konnte schon 1950 mit 60 Betten belegt werden. Da Zöllner von Anfang an einen Schwerpunkt der klinischen und wissenschaftlichen Arbeit in die Entwicklung von hörverbessernden Operationen und der Rehabilitation von Schwerhörigen setzte, richtete er eine audiologische Arbeitsgruppe ein, zu der neben Hahlbrock auch der Physiker Dr. H. Michler gehörte. Es stand für die damalige Zeit eine ungewöhnliche Ausstattung zur Verfügung, u.a. mit einer Camera silens und allen damals verfügbaren Tonaudiometern, insbesondere denen der Firma ATLAS ELEKTRONIK GmbH in Bremen. Hahlbrock beschäftigte sich anfangs mit den überschwelligen Hörprüfungen in der Tonaudiometrie, ein damals sehr aktuelles Thema. Daraus resultierte 1952 eine erste audiologische Publikation zusammen mit Zöllner. Für die genauere Diagnostik von Hörstörungen stand lediglich die Tonaudiometrie zur Verfügung. Das Sprachverständnis konnte nur mit Hilfe der Hörweitenprüfung für Flüster- und Umgangs-Sprache geprüft werden. Auch für die Anpassung von Hörgeräten, in deren technischer Entwicklung nach dem Krieg durch die Einführung von Röhrenverstärkern und Transistoren sprunghafte Fortschritte erzielt worden waren, gab es lediglich die Hörweitenprüfung. Aber die war keinesfalls standardisiert und lieferte nur recht ungenaue Ergebnisse.
Hahlbrock studierte mit großem Fleiß die wissenschaftliche Literatur, insbesondere die anglo-amerikanische, die in Deutschland während des Krieges gar nicht und in den ersten Jahren danach nur unter großer Mühe zugänglich gemacht werden konnte. In den U.S.A. waren im Psycho-Akustischen Laboratorium der Harvard University 1947/48 verschiedene Sprachtests entwickelt worden, darunter der so genannte Spondee-Test, Wörter mit zwei gleich stark betonten Silben (Spondeus = griechischer Versfuß), wie z.B. »baseball«, »airplane«. J. P. Egan aus der amerikanischen Arbeitsgruppe hatte daneben einen Test mit 20 Listen zu je 50 einsilbigen Wörtern aufgestellt. Die Wörter wurden so ausgewählt, dass sie die Häufigkeit der Sprachlaute, die man an 100’000 Wörtern bestimmt hatte, repräsentierten und hinsichtlich ihres Bekanntheitsgrades und der Verteilung der einzelnen Laute unter einander ausgeglichen waren, »phonetically balanced.«
Es gab dann auch bald in ganz Europa Wissenschaftler, die sich mit der problematik von Wörterkatalogen für eine repräsentative Sprach-Gehörprüfung beschäftigten, in Deutschland waren es vor allem Schubert in Bonn sowie Amersbach und Meister in Düsseldorf. Versucht wurden Sprachtests mit sinnvollen und sinnlosen Sätzen, mit sinnlosen Silben, ein-, zwei- und mehrsilbigen Wörtern usw. Auch Hahlbrock hatte bald begonnen, nach ähnlichen Prinzipien Wörterlisten aufzustellen, also mit Zweisilbern, entsprechend den »Spondees«, z.B. »Schwimmbad«, »Eisberg«; dann mit Zahlwörtern und schließlich mit einsilbigen Hauptwörtern. Die relative Häufigkeit der Wörter im Deutschen war schon 1897 von Kaeding an Hand von 11 Millionen Wörtern berechnet worden; H. Meier, ein Lehrer in Braunschweig, hatte die Häufigkeit der einzelnen Sprachlaute an 100’000 Lauten aus fließenden Texten ermittelt. Hahlbrock nahm diese Statistiken als Grundlage für seine Wörterlisten. Man muss seine Publikationen im Original lesen, um würdigen zu können, mit welcher Akribie und Umsicht er besonders die einsilbigen Hauptwörter auswählte; unter den 13’215 häufigsten Wörtern sind einsilbige Hauptwörter nur mit 1’194 vertreten, hiervon wurden 800 in eine erste Liste aufgenommen und in 40 Gruppen zu je 20 Wörtern geordnet, so dass die vorkommenden 51 Lautwerte gleichmäßig auf die Gruppen verteilt waren.
In diesem 1. »Verständnistest« waren jedoch noch zu viele relativ seltene und unbekannte Wörter enthalten, sodass der Test schließlich auf 20 Gruppen zu je 20 Wörtern reduziert wurde, so wie er heute noch vorliegt. Für die Aussprache und Reproduktion stand ein mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Eigenbau erstelltes Tonbandgerät zur Verfügung. Hahlbrock prüfte, unterstützt von zahlreichen Doktoranden, in großen Versuchsreihen den Einfluss, den die individuelle Sprechstimme auf die Verständlichkeit hat, männlich, weiblich, Schauspieler, Sänger, ungeübte Sprecher usw. Schließlich blieb es bei einem Rundfunk-Sprecher, mit dem die am besten reproduzierbaren Ergebnisse erzielt wurden. In der oben erwähnten Arbeit von 1953 sind diese Bemühungen und ihre Ergebnisse ausführlich dargestellt.
1949 war eine Arbeitsgemeinschaft Deutscher Audiologen gegründet wurden (»ADA«, später unter Einbeziehung der Neurootologie erweitert zur »ADANO«), die ab 1950 jährlich eine Tagung abhielt. Auf der 3. Arbeitstagung im Oktober 1952 in Bremen war das wichtigste Thema die Sprachaudiometrie, über die in mehreren Vorträgen referiert und diskutiert wurde. Hahlbrock trug damals die Ergebnisse seiner Studien vor, die dann in der schon erwähnten Arbeit 1953 ausführlich publiziert wurden. Der Hahlbrock’sche Ansatz war bei weitem der überzeugendere, und so beschloss die ADA nach eingehender Aussprache, den Hahlbrock’schen Test in der klinischen Sprachaudiometrie zu empfehlen. Dies war die Geburtsstunde der deutschen Sprachaudiometrie in einer Weise, die bis heute Bestand hat. Alle anderen Vorschläge konnten sich gegenüber dem »Freiburger Sprachtest« nicht durchsetzen.
Es wurden bald von verschiedenen Firmen Sprachaudiometer entwickelt, besonders von den Atlas-Werken in Bremen und der Firma Beoton in Essen. Sie arbeiteten mit dem Prinzip der elektromagnetischen Speicherung auf einem Tonband, aber auch auf einer Walze oder einer Manschette, weniger auf Schallplatten, wie es in Amerika lange bevorzugt wurde. Der Freiburger Sprachtest wurde mit Unterstützung der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig noch einmal mit einem anderen Rundfunk-Sprecher und unter perfekten technischen Bedingungen aufgenommen, 1969 zur Norm erhoben (DIN 45´626) und steht seither mit diesem Mutterband als Standard zur Verfügung.
Hahlbrock hatte sich 1956 mit seinen Arbeiten zur Sprachaudiometrie habilitiert und diese 1957 in einer Monographie zusammengefasst. Es folgten noch zahlreiche ergänzende Artikel, Handbuchbeiträge und 1970 eine 2. Auflage seiner klassisch gewordenen »Sprachaudiometrie«, in der er aus der Sicht des niedergelassenen HNO-Arztes entsprechende praktische Erfahrungen einbringen konnte. Durch Hahlbrocks Aktivitäten, die sich auch auf die Anpassung von Hörgeräten und die Hördiagnostik bei Kindern erstreckte – u.a. hatte er 1951 ein Gerät zur »audiometrischen Prüfung des Lidreflexes« entwickelt, das, von der Fa. Beoton hergestellt und vertrieben, weite Verbreitung fand – wurde Freiburg für eine Reihe von Jahren zum Mekka der Audiologie, neben Bonn, wo Langenbeck die Tonaudiometrie maßgebend gestaltete. Hierzu trugen Schulungskurse bei, in denen die neuen Errungenschaften der elektroakustischen Hörprüfungen vorgetragen wurden und von den Teilnehmern geübt werden konnten. Der 1. Kursus über fünf Tage fand im Oktober 1953 in Freiburg statt, wurde von über 200 Teilnehmern besucht; zu praktischen Übungen standen 20 Ton- und Sprachaudiometer aller damals bekannten Fabrikate zur Verfügung.
Hahlbrock verließ Ende 1964 die Freiburger Klinik und baute sich in Koblenz eine Praxis und eine Krankenhaus-Abteilung im Evangelischen Stift St. Martin auf, in der er bis 1990 noch tätig war. Er war 1962 zum außerplanmäßigen Professor ernannt worden. 1965 wurde ihm von der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde e.V. der Prof.-Dr.-Ludwig-Haymann – Preis verliehen. Damit war er der erste Preisträger dieser am höchsten dotierten Auszeichnung der Gesellschaft. 1964 wurde die »Sektion Hören« im Deutschen Grünen Kreuz e.V. gegründet und Hahlbrock zu ihrem 1. Leiter ernannt, eine Aufgabe, der er sich bis 1967 mit Eifer und organisatorischem Einsatz widmete. Vom Präsidium des Deutschen Grünen Kreuzes wurde er »in Anerkennung seiner großen Verdienste um die erfolgreiche Aufklärung von Fachwelt und Laienpublikum bei Schwerhörigkeit« mit der Goldenen Ehrennadel ausgezeichnet.
Hahlbrock hat sich mit der erfolgreichen Einführung der deutschen Sprachaudiometrie große Verdienste erworben und sich selbst ein Denkmal gesetzt. Wir werden ihm ein ehrendes Gedenken bewahren.
Autor: Harald Feldmann