Anmerkungen zu einem relevanten Thema
Einige locker formulierte Gedanken zu einem durchaus ernsten Thema. Warum gibt es heute noch Otoplastiken, die als »Ohrstöpsel« die Ohren verschließen? Warum gibt es überhaupt noch Otoplastiken? (Teil 1).
Und ein paar durchaus ernst gemeinte Ergebnisse einer Studie, in der 40 Ohren mit Hörverlusten bis 90 (!) dB offen versorgt wurden (Teil 2).
Wer schlecht hört, möchte oftmals besser hören. Wer sich mit der Gewissheit abgefunden hat, schlecht hören zu können, denkt daran, was helfen könnte.
Die Hand hinter dem Ohr – dieser Bio-Verstärker wird von fast jedem genutzt; zumindest in schwierigen Situationen. »Näher ran an den Redner« wird auch gerne eingesetzt, zumal wenn die Nähe sowieso gesucht wird. Türen werden geschlossen, um störenden Lärm auszuschließen, Fenster auch. Lärmquellen im Hintergrund werden abgeschaltet, die Spülmaschine und der Heizlüfter. Elektrische Hilfsmittel werden natürlich auch gerne genutzt, um die Verständlichkeit zu erhöhen. Der Fernseher und das Handy werden einfach lauter gestellt, an der modernen Dolby-Surround – Anlage kann ein Raumklang für Sprache gewählt werden – den gab es übrigens schon an den Röhrenradios vor 60 Jahren.
Keiner wird aber daran denken, sich die Ohren zu verstopfen, um besser zu hören.
Lärmschutz? Nein Danke!
Wer sich die Ohren zustopft, mit Ohropax® oder anderen Schallschützern, erlebt wenig Erfreuliches.
Die eigene Stimme klingt dröhnend und ungewohnt, Kau- und Körper-Geräusche sind unerträglich laut. Natürlich wird alles leiser; was bei einem startenden Düsenflugzeug noch angenehm wirkt, bei einer Unterhaltung stört es die Kommunikationsfähigkeit erheblich.
Zusätzlich tritt ein mechanisches Druckgefühl und ein Wärmestau auf, was die Menschen sehr unterschiedlich erleben. Die einen stört es nur, bei den nächsten tritt Hautreizung bis hin zu Rötungen oder gar Entzündungen auf.
Dies sind alles Gründe, die dazu führen, dass ein Verstopfen der Ohren von den meisten Menschen abgelehnt wird, von Masochisten spezieller Prägung einmal abgesehen. Müssen die Ohren, etwa aus Gründen des Lärmschutzes, verstopft werden, entziehen sich die meisten Lärmarbeiter dieser lästigen Pflicht, leider oft mit dB-reichen Spätfolgen. Wie schlimm muss das Gefühl der verschlossenen Ohren sein, wenn Millionen Menschen lieber bewusst die Gefahr eines Hörschadens eingehen, als sich die Ohren zu verstopfen?
In Demut leiden…
Eine spezielle Gruppe von Menschen erträgt allerdings den Verschlussefekt in Demut, weil ihnen offensichtlich nichts anderes übrig bleibt – die Hörgeräteträger.
Schon bei der ersten Kontaktaufnahme bei einem Akustiker mit dem Ziel eines Hörgerätekaufes werden die Ohren mit einer ekelhaften, klebrigen Masse verschmiert, die man sonst nur vom Zahnarzt kennt, dort freilich muss dann zusätzlich auch noch der fürchterliche Geschmack ertragen werden.
Bei einigen Menschen geht das Unwohlsein direkt in Schwindel über oder führt sogar zum Erbrechen. Das erste Erlebnis bei dem Weg zum besseren Hören ist also, dass man sich nicht nur schlecht fühlt, man hört auch noch schlechter – das ist nicht sehr werbewirksam und überzeugend.
Hofft der Hörwillige nun, das Ganze sei ein einmaliges Erlebnis, das quasi als »Tor zum besseren Hören« durchlitten und durchschritten werden muss, irrt er gewaltig. Sind die Hörgeräte zur Anpassung bereit, kommen sie als Ohrstöpsel daher. Entweder als komplettes Gerät, welches im Ohr verschwindet, oder als Gerät hinter dem Ohr, mit angehängtem Ohrstöpsel. In beiden Fällen werden wieder die Ohren verstopft, mit allen genannten negativen Folgen, einschließlich des noch weiter verschlechterten Hörvermögens. Wozu?
Audiologisch sinnlos
Es gibt keinen einzigen Grund, die Ohren zu verschließen, wenn man besser hören möchte.
Warum wird es dann trotzdem getan?
Zuallererst muss gesagt werden, dass die engagierten Akustiker schon immer versucht haben, so offen wie möglich zu versorgen. Schon frühzeitig wurde die Otoplastik mit einer Druckausgleichs-Bohrung versehen, um zumindest negative Auswirkungen von Druckschwankungen, wie sie durch Fahrstuhlfahrten, Wetterumschwünge oder auch im Flugzeug auftreten können, zu beseitigen. Die Ventilations-Bohrungen, kurz »Vent« genannt, wurden immer weiter aufgebohrt, was allerdings oft zu Problemen geführt hat. Häufigstes Ärgernis war das Rückkopplungs-Pfeifen.
Weil in Hörsystemen die Mikrofone und »Lautsprecher« so dicht beieinander sind, kann der Schall aus dem Hörgerät direkt wieder vom Mikrofon aufgenommen werden. Dabei schaukelt sich das Signal auf, wird immer lauter, bis das Gerät pfeift. In der Vergangenheit war die einzige Rettung, eben diesen Weg zwischen Lautsprecher und Mikrofon mit dicht sitzenden Otoplastiken zu versperren.
Der andere wichtige Grund war der Leistungsverlust, der bei offenen Versorgungen zu beklagen war. Geschlossen angepasst klangen die Hörgeräte laut genug, mit aufgebohrter Otoplastik waren sie plötzlich viel zu hochtonig und zu leise.
Den gleichen Effekt kennt jeder vom Telefonieren: Wenn der Hörer dicht genug an das Ohr gepresst wird, ist das Telefon oder Handy laut genug, wird es nur einige Zentimeter vom Kopf entfernt, ist es plötzlich zu leise.
Alles Fehlkonstruktionen?
Sowohl für die Hörgeräte wie auch für die Telefone gilt, dass die jeweils eingebauten Lautsprecher ganz offensichtlich falsch konstruiert sind. Es wird nämlich davon ausgegangen, dass diese Lautsprecher nur ein sehr kleines Volumen zwischen Trommelfell und Telefon oder Schallauslass der Otoplastik beschallen sollen. Dafür wird nur sehr wenig Energie benötigt, es können billige Bauteile dafür verwendet werden. War es vor 100 Jahren nicht möglich, die Telefone anders zu bauen, ist heute die Technik viel weiter. Selbst mit sehr kleinen Lautsprechern kann ein ganzer Raum beschallt werden. Das kennt jeder vom Küchenradio. Insofern gibt es heute überhaupt keinen Grund, ein Telefon so zu bauen, dass es nur ans Ohr gepresst laut genug ist. Die dänische HiFi-Schmiede Bang & Olufsen hat als bisher einziger Hersteller das Problem erkannt und baut in ihre edlen Telefone Druckkammer-Lautsprecher ein. Das Prinzip dieser Schallwandler ist so effektiv, dass es zum Beispiel in Megaphonen und Alarmanlagen eingesetzt wird. Im B&O-Telefon wird so eine Lautstärke erreicht, dass der Telefonhörer bis einen halben Meter vom Ohr entfernt sein kann, und der Gesprächspartner ist immer noch gut zu verstehen. Das Zuhören ist so sehr bequem und man bekommt keine roten Ohren vom stundenlangen Telefonieren, zumindest nicht vom Anpressdruck des Hörers.
Bei Hörgeräten ist es ähnlich. Die Ingenieure der verschiedenen Hersteller bauen seit Jahren Hörsysteme, die möglichst werbeträchtige Leistungsdaten bringen sollen. Das ist am einfachsten, wenn die Randbedingungen genau definiert sind und wenn das zu beschallende Volumen möglichst klein ist. Die akustischen Randbedingungen und die zu beschallende Luftmenge lassen sich am einfachsten einschränken und definieren, wenn das Ohr verschlossen ist. Deshalb werden bis heute fast alle Hörsysteme so konstruiert, dass von geschlossenen Otoplastiken ausgegangen wird. Sobald diese Hörsysteme bei mittleren oder stärkeren Hörverlusten eingesetzt werden, würde die Leistung nicht mehr ausreichen, wenn die Otoplastiken aufgebohrt würden (von dem Risiko der Rückkopplung ist schon berichtet worden). Weil alle davon ausgehen, dass grundsätzlich geschlossen angepasst wird, sind auch die Messnormen darauf aufgebaut. Die für Hörgeräte verwendeten Messkuppler, die das Ohr simulieren sollen, haben auch eine »Otoplastik«, die geschlossen ist.
Weitblick – sich öffnen für neue Perspektiven
Die Forscher der Firma Oticon waren die ersten, die schon vor fast 20 Jahren das Ziel der offenen Anpassung für möglichst alle Hörgeräte-Nutzer definiert und angepeilt haben. Weil es aus Sicht der Betroffenen überhaupt keinen Grund gibt, die Ohren zu verschließen, und weil es aus audiologischer Sicht ebenfalls keinen Sinn macht, die Ohren zu verstopfen – im Gegenteil, es ist kontraproduktiv bis medizinisch bedenklich, wie schon beschrieben wurde.
Speziell aufgrund der Rückkopplungs-Probleme hat die Entwicklung von offen anpassbaren Hörsystemen relativ lange gedauert. Mit Analogtechnik war dies zwar schon 1989 möglich, aber nur für die relativ kleine Gruppe der Hochton-Steilabfälle, die mit dem »E 43« das erste offene Hörsystem erhielten. Welcher Aufwand damals schon getrieben wurde, um mit der zu jener Zeit zur Verfügung stehenden Technik dieses Ziel zu erreichen, wird vielleicht dadurch deutlich, dass es kein einziges analoges Nachahmer-Produkt von Mitbewerbern gab. Und auch unter Verwendung von Digitaltechnik hat es einige Jahre gedauert, bis 2003 ein weiteres Gerät speziell für Hochton-Steilabfälle und offene Anpassung entwickelt wurde – von einem dänischem Anbieter. Zu dieser Zeit war das allerdings eigentlich überflüssig, da schon das erste Digitalgerät »DigiFocus«, mit speziellem Algorithmus 1998 für diese Hörverluste einsetzbar war – offen. Weil das Audiogramm des Hochton-Steilabfalls ein Profil hat wie die schwarze Piste im Skigebiet, nennen die englisch sprechenden Menschen ihn auch »Ski-Slope«. Und so hieß der Algorithmus dann auch »Ski«. Der ist einschließlich des Namens von einem skifahrenden europäischen Bergvolk, das in vielen Witzen wegen seiner angeblichen Langsamkeit auf die Schippe genommen wird, aufgenommen worden – schon nach nur vier Jahren.
Alles offen!
Inzwischen hatte es aber schon einen weiteren Meilenstein in der Hörgeräte-Entwicklung gegeben – die offene Versorgung von breitbandigen Hörverlusten war mit dem Adapto – natürlich wieder eine Entwicklung aus Dänemark – möglich geworden. Im Jahre 2001 waren diverse technische Probleme gelöst und jetzt konnten Hörverluste bis 75 dB HL, in Einzelfällen sogar bis 90 dB HL (!), tatsächlich ohne Otoplastik, nur mit einer Schlauchhalterung, versorgt werden. Dabei waren drei Hauptprobleme zu lösen:
Das Gerät darf nicht pfeifen, es muss genügend Verstärkung an das Trommelfell bringen und es darf keine Echo-Effekte durch lange Signalverarbeitungs-Zeiten geben.
Dynamische Rückkopplungs-Unterdrückung
Nur wenn das Gerät nicht pfeift, kann es als Hörverstärker zum Verstehen eingesetzt werden. Nun sind, physikalisch betrachtet, Rückkopplungen praktisch unvermeidlich, wenn Mikrofon und Lautsprecher dicht beieinander liegen. Deshalb wurden in den ersten Geräten mit Rückkopplungs-Unterdrückung dann auch ganz ein- fach die Frequenzen beseitigt, die besonders anfällig für das Pfeifkonzert sind: die Höhen. Damit ist Ruhe, keine Rückkopplung stört. Leider ist damit aber auch Ruhe im Sprachverstehen, weil die für das Sprachverstehen so wichtigen Konsonanten auch abgesenkt sind. Die Weiterentwicklung der Technik brachte dann sogenannte »Kerbfilter« hervor. Das englische Wort für Kerbe ist »Notch«, woraus sich der werbetechnisch viel interessantere Begriff des Notchfilters ergibt. Dieser Filter – der Name beschreibt es sehr schön – senkt also nicht die gesamten Höhen ab, sondern schlägt eine Kerbe in den Frequenzgang. Genau an der Stelle, wo die Rückkopplung auftritt. Das funktioniert schon ziemlich gut, reicht aber nicht aus, um offene Versorgungen bis 75 dB Hörverlust zu realisieren. Zumal wenn die bisher beschriebenen Systeme einmal in ihrer Wirkung im Hörsystem einprogrammiert werden müssen, sich also nicht selbst an veränderte Bedingungen anpassen. Wenn der Telefonhörer vor das Ohr gehalten wird, bei Umarmungen oder wenn die Otoplastik etwas verrutscht, fängt es trotzdem an zu pfeifen. Sogenannte adaptive Verfahren können zwar eigenständig die Regelung anpassen, aber immer mit dem Nebeneffekt, dass hauptsächlich die Höhen, mehr oder weniger, abgesenkt werden – und damit auch die Sprachverständlichkeit.
Gegenschall
Schon relativ früh kam die Idee auf, statt der Absenkung der hohen Frequenzen den störenden Rückkopplungs-Schall durch Gegenschall zu beseitigen. Das Grundprinzip ist sehr einfach. Eine den Frequenzgang überlagernde Rückkopplung stellt sich als eine zusätzliche Resonanzspitze dar. Setzt man dieser Spitze ein Signal entgegen, das praktisch gespiegelt ist, löschen sich Spitze und Tal gegenseitig aus, der ursprüngliche Frequenzgang bleibt übrig. Dieser Effekt kann an jedem Dorfteich – mit Wasserwellen – beobachtet werden. Einfach zwei Steine in das ruhige Wasser werfen und die sich kreisförmig ausbreitenden Wellen beobachten. Wenn die Wellenfronten zusammen treffen, gibt es zwei Extreme zu beobachten. Stoßen zwei gleich hohe Wellenberge aufeinander, türmen diese sich auf, die Welle ist plötzlich doppelt so hoch. Trifft aber ein Wellental auf einen »Berg«, füllen die Wassermassen des Berges das Tal aus, die Wasseroberfläche ist an dieser Stelle ausgeglichen und glatt – wie der Rückkopplungs-freie Frequenzgang. Dieses scheinbar simple Prinzip ist in der Akustik aber nur sehr schwer umzusetzen. Weil in dem Moment, in dem die Störung auftritt, sofort der Gegenschall erzeugt werden muss. Dazu sind aufwändige Signal-Analysen notwendig, und die benötigen Rechen-Kapazität, Zeit und letztendlich auch Strom.
Die ersten erfolgreichen Gegenschall-Konzepte am Ohr sind deshalb auch nicht gegen Rückkopplungen sondern gegen tieffrequenten Lärm eingesetzt worden. In Kopfhörern, die Platz für größere Schaltungen boten. Da Lärm, zum Beispiel im Cockpit eines Flugzeuges, relativ konstant ist, ist die Analyse des Signals nicht so aufwändig – es kann also recht einfach ein Gegenschall von einem Signalgenerator erzeugt werden. Daraus ergibt sich dann für den Piloten ein Kopfhörer-Signal, welches vom Lärm befreit ist. Die Firma Sennheiser hat unter dem Markennamen »Noiseguard« schon vor ca. 10 Jahren solche Kopfhörer angeboten, von denen es inzwischen diverse Nachahmer-Modelle gibt.
Um Rechenkapazität für die Signalanalyse zu sparen, wurde bei der ersten Hörgeräte-Anwendung ein einfacher Trick angewandt. Im Hörgerät wurde dem verstärkten Signal einfach ein Test-Ton zugemischt. Konnte dieser am Mikrofoneingang ebenfalls gemessen werden, wurde von einer Rückkopplung ausgegangen. Dieser Test-Ton hatte nur leider einen Nachteil. Die Benutzer der Hörsysteme wurden zwar nicht mehr so oft durch Rückkopplungen genervt, dafür hatten sie einen Rauschgenerator am Ohr. Gerade Menschen, die in einigen Frequenzen noch relativ gut hören, lehnen solche notorischen Störquellen am Ohr ab.
Die nächsten Versuche bestanden darin, im Gerät kurzzeitig eine Rückkopplung zuzulassen, um dann möglichst schnell darauf zu reagieren. Diese Geräte haben den Nachteil, dass der Benutzer ziemlich oft ein kurzes Piepen am Ohr hat. Weil im Hörsystem dann jedes Mal der Rechner auf volle Leistung geht, um das Pfeifen »einzufangen«, steigt die Stromaufnahme solcher Systeme bis auf das Doppelte des normalen Arbeitsstromes. Bei den heutigen Hörsystemen, mit kleinsten Batterien, ist dies einfach inakzeptabel.
Ein weiterer Nachteil ist die relative Unruhe, die die Benutzer erleben. Gerade wenn so ein System möglichst offen angepasst werden soll, ist es praktisch ständig an der Grenze zur Rückkopplung. Dadurch gibt es permanent kurze Pieptöne und Gegenreaktionen des Systems – das Gerät klingt sehr unruhig. Manche Nutzer beschreiben dies als ein »Flattern« im Klang.
Physikalisch nicht möglich…
Die Erfinder der offenen Anpassung hatten also die Aufgabe, ein System zu entwickeln, das möglichst nicht zu hören ist, keinen Strom verbraucht und die Höhen nicht absenkt. Und das ist physikalisch praktisch nicht möglich. Also musste mit diversen technischen Tricks, die hier nur kurz angerissen werden können, gearbeitet werden.
Zuerst wurde die Signal-Analyse mit aufwändigen Rechen-Algorithmen wesentlich verfeinert, so dass Rückkopplungen schon im Ansatz, bevor sie hörbar sind, erkannt werden.
Daraus wird der notwendige Gegenschall errechnet und von einem Signalgenerator erzeugt.
Dieser Zustand wird zwischengespeichert. Weil dann nicht mehr weiter analysiert und gerechnet wird, benötigt das System in den »Speicherpausen« auch keinen zusätzlichen Strom. Erst wenn sich die akustischen Randbedingungen ändern, zum Beispiel wenn ein Telefon an das Ohr gehalten wird, registriert eine zweite Analyse-Einheit den Zustand der Veränderung und aktiviert wieder die vollständige Signal-Analyse. Diese ist dann sehr präzise, so dass wirklich nur die Rückkopplungs-Resonanz beseitigt wird – ohne Klang-Veränderung. Damit ist der Einsatz der dynamischen Rückkopplungs-Unterdrückung nicht mehr zu hören, die Stromaufnahme liegt durch die intelligente Zwischenspeicherung bei nur 0.05 mA und die Effektivität ist so groß, dass bei gleichem Vent die Verstärkung um bis zu 20 dB steigen kann. Oder es kann bei gleichem Verstärkungs-Bedarf der Vent erheblich aufgebohrt werden – zur offenen Anpassung.
Tiefton-Ausgleich
Weil ein Hörgerät, geschlossen angepasst, sofort leiser klingt, wenn der Vent aufgebohrt wird, sprechen die Akustiker davon, dass die »Tiefen abfließen«. Dieser Effekt kann erheblich sein, Leistungsverluste bis zu 40 dB können auftreten. Weil bei vielen Hörsystemen die Tieftonwiedergabe sowieso schon mangelhaft ist, kann bei solchen Leistungsverlusten das Gerät bestenfalls noch zur Versorgung von Hochton-Steilabfällen eingesetzt werden. (Weshalb die jetzt auf den Markt drängenden Nachahmer-Produkte auch alle für »Einsteiger« oder eben Hochtonverluste angeboten werden.)
In den Produkten aus dem Forschungs-Zentrum Eriksholm ist man auch dieses Problem grundlegend angegangen. Wie schon beschrieben, kann sehr wohl auch mit kleinen Lautsprecher-Systemen ein relativ großes Volumen beschallt werden. Das Küchenradio wurde schon genannt, es kann aber auch an ein anderes spektakuläres Beispiel erinnert werden. Als Oticon die für damalige Verhältnisse sensationell leistungsstarken Power-Geräte E 38 P entwickelt hatte, wurden diese 1988 auf dem Messestand mit Klang-Demonstrationen vorgestellt. Nicht über Kopfhörer, nicht über Lautsprecher, sondern einfach mit riesigen Schalltrichtern, die eine Impedanzanpassung zwischen Hörgeräte-Lautsprecher und Messestand ermöglichten.
Hier wurde eindrucksvoll demonstriert, dass ein kleines Hörgerät sehr wohl im Messelärm genügend Schalldruck aufbauen kann.
Für die offene Anpassung wurde also ein Verstärker entwickelt, der speziell in den tiefen Frequenzen zusätzliche Leistung liefert. Da der Verlust durch den Vent erheblich sein kann, muss diese Reserve sehr groß sein. Je nach Hörverlust und Vent müssen tatsächlich bis zu 30 dB mehr Verstärkungsleistung im Gerät aufgebaut werden, um genügend Tiefton-Leistung an das Trommelfell zu bringen. Um diese Leistung auch tatsächlich umzusetzen, sind spezielle Lautsprecher (»Hörer«) notwendig, die wie Subwoofer arbeiten. Da solche Systeme bisher nicht existierten, wurden auch diese von den dänischen Klangmeistern entwickelt. Bei den Testläufen mit den ersten Subwoofern wurde allerdings festgestellt, dass die Nutzer dieser Systeme einen vollen Tiefton-Ausgleich als zu laut empfinden. Da durch das offene Ohr der Schall direkt auf das Trommelfell trifft, addiert sich die akustische Leistung des Direktschalls mit dem des Hörsystems. Damit braucht der Subwooter nur etwa die Hälfte des Tieftonverlustes auszugleichen.
Zeitverzögerung
Wenn das Ohr offen ist, kann auch Schall auf dem natürlichen Weg an das Trommelfell gelangen. Das ist durchaus erwünscht, weil dadurch der vertraute Klang aller Geräusche erhalten bleibt. Nur das, was fehlt, meist der hochtonige Anteil von Sprache, soll vom Hörsystem verstärkt werden.
Nun dauert aber die Signalverarbeitung im digitalen Hörsystem eine gewisse Zeit, so wie auch jeder Computer eine gewisse Zeit braucht, um zum Beispiel eine Grafik aufzubauen. Wird die Zeit zur Signalverarbeitung zu lang, kann es zu Echoeffekten kommen. Erst wird über den Vent der Ton gehört, dann über das Hörsystem – zeitverzögert. Solche Echo-Effekte kennt fast jeder vom Telefonieren über das Handy. Unter ungünstigen Bedingungen kann es dazu kommen, dass der Sprecher sich selbst im Handy als Echo hört, was sehr irritierend ist. Bei offener Anpassung kann solch ein Echo-Effekt im günstigsten Fall zur Ablehnung der Hörsysteme führen, es kann aber auch schlimmer kommen – zu Schwindelanfällen. Deshalb darf für die offene Anpassung die Signalverarbeitungs-Zeit im Hörsystem nicht mehr wahrgenommen werden; konkret muss die Zeit unter 5 Millisekunden liegen.
Der Dreisprung
Es müssen also 3 Voraussetzungen erfüllt sein, damit die offene Anpassung auch für breitbandige Hörverluste bis 80 oder sogar 90 dB HL möglich ist: die dynamische Rückkopplungs-Unterdrückung, der Tieftonausgleich und die Signalverarbeitung ohne hörbare Zeitverzögerungen, Diese Funktionen zusammen sind nur sehr aufwändig zu realisieren. Im ersten Hörsystem für breitbandige, offene Anpassungen, dem Adapto von Oticon, wurde die Hälfte der Chip-Kapazität nur für die offene Anpassung eingesetzt, die andere Hälfte konnte für Spracherkennung, Anpass-Algorithmen und weitere Funktionen genutzt werden. Wie aufwändig der Nachbau solch eines Digitalsystems ist, zeigt auch hier wieder, dass es bis heute von keinem anderen Hersteller ein vergleichbares System gibt, mit dem breibandig offen versorgt werden kann. Zwar bieten inzwischen alle großen Firmen Hörsysteme zur offenen Anpassung an, aber eben nur für beginnende Hörverluste oder Hochton-Steilabfälle. Die breitbandigen Hörverluste bis 75 dB HL sind mit diesen Systemen nicht zu versorgen, an 90 dB HL braucht gar nicht gedacht zu werden – die Geräte wären viel zu leise oder würden schlichtweg pfeifen.
Schlechte Erfahrung?
Schlechte Erfahrung mit offenen Anpassungen sind wohl die Gründe, warum bis heute die meisten Otoplastiken nicht konsequent offen, sondern eher geschlossen sind. Obwohl die Erfahrungen mit den »Skiern« natürlich nicht auf Breitbandgeräte übertragbar sind, wird dies wohl intuitiv doch ziemlich oft getan. (Dass die offene Anpassung bis 90 dB HL möglich ist, wird im nächsten Teil gezeigt.)
Die Welt steht (fast) allen offen!
Weil inzwischen vom Erfinder der offenen Breitband- Anpassung alle Hörsysteme ab der digitalen Mittelklasse »offen« sind, können ca. 80 % aller Hörverluste tatsächlich von dieser Technik profitieren. Da der Vorteil der offenen Anpassung für jeden Benutzer sofort hörbar ist, ist der Verkauf dieser Geräte wesentlich einfacher als der der »Ohrstöpsel«. Diesen Vorteil nutzen immer mehr Akustiker konsequent – mit dem Ergebnis, dass die Patienten (und die Buchhaltung) zufrieden sind.
Ein Ausblick in die Zukunft
Weil das Ohr einfach offen sein sollte, ist bei der rasanten Entwicklung im Bereich der Hörsysteme davon auszugehen, dass die Otoplastik in Zukunft nur noch für Super-Power – Versorgungen benötigt wird. Alle anderen Versorgungen werden offen sein, in jeder Preisklasse!
Autor: Dipl.-Ing. Horst Warncke