Standen im 1. Teil dieses Artikels (»Hörakustik«) die Vorteile der offenen und die Kontraproduktivität der geschlossenen Versorgung im Vordergrund, so soll in diesem Teil nachgewiesen werden, dass die technischen Voraussetzungen für die »otoplastikfreie Anpassung« erfüllt sind. Dieser Nachweis ist insofern notwendig, weil es immer noch Diskussionen darüber gibt, ob offene Anpassung überhaupt funktionieren kann. Und weil die Masse der heute gefertigten Otoplastiken eben nicht bloße Schlauchhalterungen, sondern nach wie vor »Ohrstöpsel« sind.
Soll bewiesen werden, dass etwas funktioniert, ist die Wissenschaft gefragt. Das gilt selbst dann, wenn etwas sonnenklar ist. So weiß jeder, der schon einmal (nicht zu lange) in der Sonne gelegen hat, dass die wärmenden Strahlen in Körper und Geist angenehme Gefühle hervorrufen. Kürzlich konnte diese Tatsache – tatsächlich – durch Psychologen wissenschaftlich fundiert erforscht und bestätigt werden. Dass wir uns in der Sonne wohl fühlen, ist damit nicht nur ein diffuses individuelles Gefühl, sondern endlich auch eine wissenschaftlich korrekte Zustandsbeschreibung.
Das Studiendesign
Für die offene Versorgung musste also auch die Bestätigung durch die Wissenschaft erbracht werden, um die letzten Zweifler zu überzeugen. Dazu wurde eine Studie mit 20 Probanden (binaural) in der Hörzentrum Oldenburg gGmbH durchgeführt. Die 40 Ohren wurden sowohl mit Im-Ohr (IdO) – wie auch mit Hinter-dem-Ohr (HdO) – Geräten versorgt. Für den Test wurden Geräte mit dynamischer Rückkopplungs-Unterdrückung, Tiefton-Ausgleich und nicht wahrnehmbarer Signalverarbeitungszeit (Adapto mit »Open Ear Acoustics«, vom dänischen Hersteller Oticon) eingesetzt. Es folgten zahlreiche Messungen, jeweils mit geschlossenem Ohrpassstück, mit 0.8 mm Vent und mit reiner Schlauchhalterung bei den HdOs. Die IdOs wurden mit 3 mm-Vent »geöffnet«.
Damit ein akustischer Verschlusseffekt bei den Testkandidaten überhaupt auftreten konnte, durfte der Tiefton-Hörverlust bis 1 kHz nicht über 30 dB liegen. Ansonsten waren alle dB-Werte erlaubt. Die Durchschnitts-Daten lagen im Hochton-Bereich bei 75 dB HL, in Einzelfällen sogar bei 90 dB HL.
Gemessen wurden die (rückkopplungsfrei) erreichten Verstärkungswerte vor dem Trommelfell, aber auch die Pegel, die dort entstehen können, wenn gekaut oder gesprochen wird. Mit geschlossenen und offenen Ohren.
Die Hörsysteme sollten, wie im echten Leben, so angepasst werden, dass die bestmögliche Sprachverständlichkeit erreicht wurde. Es durften also keine Kompromisse hinsichtlich der eingestellten Verstärkung gemacht werden. Ebenfalls durften keinerlei frequenz-beeinflussende Höhenabsenkungen vorgenommen werden, wie sie mit Kerbfiltern (englisch: Notchfilter) oder anderen einfachen Rückkopplungs-Unterdrückungs – Systemen nicht zu vermeiden sind.
Es sollte also geprüft werden, ob es tatsächlich möglich ist, die negativen Effekte der geschlossenen Hörgeräte-Anpassungen zu beseitigen. Und es sollte die Rückkopplungs-Sicherheit der »Open Ear Acoustics« objektiv überprüft werden, da diese Technik inzwischen in vier Hörgeräte-Familien eingesetzt wird (Atlas Plus, Gaia, Adapto, Syncro). Wenn sich diese Technik bewährt, ist geplant, sie langfristig in alle Neuentwicklungen des dänischen Herstellers zu integrieren.
Die Testkandidaten
Das Hörzentrum Oldenburg startete mit 21 Testpersonen, von denen eine den Test nicht bis zum Ende begeleitete – »Drop Out« ist die Bezeichnung für diese Abbrecher.
Drei Personen trugen binaural moderne Hörsysteme, der Rest war unversorgt. Die Geburtsjahre lagen zwischen 1926 und 1956.
Die Tester bekamen für den Zeitaufwand der Messungen eine Aufwands-Entschädigung. Es sollten die HdOs 4 Wochen getragen werden, die Im-Ohr – Geräte anschließend ebenfalls vier Wochen.
Kaugeräusche!
Um zu überprüfen, wie stark der Verschlusseffekt beim Essen stört, sollten die Kandidaten mit ihren Hörsystemen Knäckebrot kauen. Mit einem Sondenmikrofon wurde der Schalldruckpegel vor dem Trommelfell gemessen. Geschlossen, mit 0.8 mm Vent und offen.
Wie zu erwarten waren die Kaugeräusche sehr laut. Wie laut, erstaunte allerdings so manchen lang gedienten Akustiker. Bei geschlossenen Ohren wurden Pegel bis fast 105 dB (!) SPL erreicht. Nur 10 % der Ohren mussten weniger als 90 dB ertragen, der Rest lag weit darüber. Nach den Kriterien für den Arbeitsschutz gelten Pegel über 85 dB als zu laut. Diese Pegel müssen verhindert werden, damit ein Lärmschaden vermieden wird.
Werden diese Arbeitsschutz–Richtlinien streng ausgelegt, ist es also verboten, am Arbeitsplatz zu essen, wenn man geschlossene Hörsysteme trägt. Alle Probanden hatten Kaugeräusche, die über 85 dB lagen.
Werden die Otoplastiken allerdings kräftig aufgebohrt, mit 4 mm Vent, so sinkt diese Lärmbelastung im Schnitt um ca. 20 dB. [Es] ist auch die Bedeutungslosigkeit der 0.8 mm-Bohrung dokumentiert – für den Druckausgleich im Fahrstuhl noch geeignet, hat sie leider keinerlei positive Auswirkung auf die schrecklich lauten Kaugeräusche.
Wer also mit seinen Hörsystemen mit Freude und in Ruhe essen möchte, braucht die offene Versorgung – es gibt keine Alternative.
Die eigene Stimme
Jeder Mensch, der zum ersten Mal Hörsysteme bekommt, fängt intuitiv an zu sprechen. Um zu hören, wie die eigene Stimme klingt. Und die klingt verstärkt meist ziemlich schrecklich. Viel zu dröhnend, viel zu laut. Grund für die Klangkatastrophe ist wieder mal die geschlossene Versorgung. Sie sorgt dafür, dass speziell im Tiefton-Bereich bis zu 20 dB mehr Lautstärke am Trommelfell erzeugt wird, als es der unversorgte Kandidat gewohnt ist. Und 20 dB mehr werden einfach nur als Lärm empfunden. Als Dröhnen. Als unerträgliche Belastung.
Auch hier gibt es eine einfache Lösung: Die Ohren müssen offen bleiben – damit dröhnt die Stimme nicht mehr, sie klingt »normal«.
Alles offen, alles gut – doch was ist mit Rückkopplung?
Die Beseitigung des Verschlusseffektes ist ziemlich einfach: Die Ohren müssen offen bleiben. Aber Hörsysteme sollen ja auch noch eine zusätzliche Hilfe bringen. Und da haben die Hörakustiker leider jahrzehntelang schlechte Erfahrungen gemacht. Kaum werden die Otoplastiken gelockert oder sogar aufgebohrt, fängt es an zu pfeifen, Rückkopplungen im Hörsystem sind der Grund. Die Wirksamkeit der modernsten Techniken zur Unterdrückung eben dieser Rückkopplung sollten also auch gemessen werden, in Dezibel und Millimetern.
Die Ergebnisse waren absolut und eindeutig.
Nach der Definition der Akademie für Hörgeräteakustik gilt bei einer HdO-Anpassung eine Bohrung von 2.4 mm als »offen«.
40 Ohren bis 90 dB Hörverlust: 100 % offen
Bei allen Probanden konnten die Ohren offen bleiben!
36 der 40 Ohren wurden ohne jegliche Otoplastik, also nur mit einer Schlauchhalterung, rückkopplungsfrei versorgt! Drei Ohren erhielten einen 4-Millimeter – Vent, nur ein Ohr musste ertragen, das der Vent lediglich 2.4 mm groß war. Nach »Lübecker Definition« waren also alle Versorgungen der 40 Ohren mit Hörverlusten bis 90 dB HL (!) offen.
Und selbst nach strengeren Kriterien, die nur eine Schlauchhalterung als wirklich offen gelten lassen, konnten 90 % in den Genuss der offenen Versorgung kommen – auch bis 90 dB HL.
Die so erreichten maximalen Verstärkungswerte lagen in Bereichen zwischen 51 und 58 dB Insertion Gain!
Im IdO – Test sind die Ergebnisse ähnlich gut, obwohl IdOs noch rückkopplungsanfälliger sind als HdOs:
Die Firma Oticon baut Im-Ohr – Geräte bekanntlich mit so genannten Collection-Vents. Das sind trichterförmige Bohrungen, die sich zum Trommelfell hin aufweiten. Dadurch wird trotz einer relativ kleinen Bohrung in der Faceplate ein akustischer Effekt erzielt, der einem deutlich größeren konventionellem Vent entspricht.
Zwei der 40 Im-Ohr – Geräte hatten einen Collection-Vent von 1.4 mm. Das entspricht etwa einem konventionellen 1.9 mm-Vent. Drei Geräte hatten einen Collection-Vent von 2.4 mm (= etwa 2.9 mm konventionell) und 35 IdOs hatten einen Collection-Vent von 3 mm (= etwa 3.7 mm konventionell)!
Die Ergebnisse sind eindeutig: offen!
Damit wird die große Rückkopplungs-Sicherheit der »Open Ear Acoustics« jetzt auch von neutraler, wissenschaftlicher Seite bewiesen.
Die Vorteile von offenen Versorgungen sind bekannt:
- natürlicher Klang der eigenen Stimme,
- weniger störende Kaugeräusche,
- kein oder deutlicher reduzierter Verschluss-Effekt,
- wesentlich angenehmeres Tragegefühl und
- keine Hautirritationen.
Insofern kann die vorsichtige Zurückhaltung bezüglich einer offenen Versorgung, die vielfach noch an den Tag (oder an das Ohr) gelegt wird, endgültig abgelegt werden.
Autor: Dipl.-Ing. Horst Warncke