Audiometrische Befunde zur Differenzierung peripherer und zentraler Anteile der Hörfähigkeit im Alter (Habilitationsschrift 2003 – HNO-Lehrstuhl der Universität Witten/Herdecke. Der Autor, Priv.-Doz. Dr. Gerhard Hesse, ist Träger des Förderpreises 2004 der Forschungsgemeinschaft Deutscher Hörakustiker (FDHA).).
Zusammenfassung
Zur Frage der Altershörigkeit (Presbyakusis) oder der Altersschwerhörigkeit liegen seit Ende des vorletzten Jahrhunderts zahlreiche Untersuchungen vor. Im Wesentlichen ging es damals wie heute darum, Normwerte für einzelne Altersgruppen aufzustellen.
An einer großen Gruppe von 477 Probanden wurden in der vorliegenden Studie diese Normwerte überprüft. Die gefundenen Daten entsprachen besonders in den hohen Frequenzen den audiometrischen Werten, die auch von anderen Autoren beschrieben worden sind. Allerdings hat sich, besonders in den tiefen und mittleren Frequenzen, eine Verschlechterung gezeigt, jedenfalls betreffend das Tonschwellengehör. In der Kontrollgruppe der 15- bis 30-jährigen Patienten konnte dagegen eine annähernde Normakusis tonschwellen-audiometrisch festgestellt werden.
Somit ist festzustellen, dass die Hörminderung sich in Bezug auf das Tonschwellen-Audiogramm in den letzten Jahrzehnten nicht wesentlich verändert hat, allenfalls in den tiefen Frequenzen. Allerdings ist eine Schwerhörigkeit im Alter nicht physiologisch, d.h. unabwendbar. Immerhin 16 % der über 60-jährigen und 12% der über 70-jährigen konnten noch vollständig normal hören.
Zur Klärung jedoch, inwieweit als Ursache für eine Hörminderung im Alter eine Degeneration der Haarzellen des Innenohres oder Veränderungen in den zentralen, d.h. allen retrocochleären Hörbahn-Anteilen anzusehen sind, lagen zurzeit in der Literatur noch keine einheitlichen Untersuchungen anhand ausreichend großer Kollektive vor.
Durch die vorliegende Studie sollte diese Lücke geschlossen werden:
Der BMLD-Test zur Erfassung der binauralen Detektion aus einem Störgeräusch wurde klinisch validiert und erwies sich als gut und schnell durchführbarer Test zur Erfassung retrocochleärer Hörbahn-Anteile.
Bei den über 60-jährigen Probanden zeigte sich in der überwiegenden Mehrzahl (>50 bzw. > 75 %) eine Mischform, wo sowohl periphere als auch zentrale Anteile ursächlich für die Schwerhörigkeit waren. Jedoch gibt es auch eine große Zahl von Patienten (21 % der 60- bis 70-jährigen und immerhin noch 11.5 % der über 80-jährigen), bei denen die Innenohrfunktion noch vollständig normal war, der Hörverlust also einzig auf zentrale Anteile zurückzuführen war. Im Gegensatz dazu war nur bei 3.8 % der über 80-Jährigen die zentrale Hörverarbeitung normal, der Hörverlust also einzig bedingt durch eine Störung der Haarzellen des Innenohres. Auffällig ist in der Kontrollgruppe, dass hierbei, obwohl ausschließlich normalhörige Befunde im Tonschwellen-Audiogramm gefunden wurden, dennoch die Innenohrfunktion ausweislich der gemessenen DPOAE bei fast 30 % der Probanden nicht mehr normentsprechend war. Dies deutet auf beginnende, eventuell zivilisationsbedingte periphere Hörschäden hin, zeigt aber ebenso, dass auch die DPOAE in ihrer Aussagekraft begrenzt sind.
In einem weiteren Teil der Untersuchung wurden die erhobenen Befunde mit denen verglichen, die auf einer geriatrischen Station bestimmt wurden, mithin an multimorbiden Patienten. Hier fanden sich statistisch signifikant nur in einzelnen Frequenzen und Werten und damit nicht spezifisch Unterschiedez den übrigen Senioren, während die Tonserschiene zu deramme allgemein sowie die wesentlichen Aussagen zur Genese der Schwerhörigkeit den Werten entsprachen, die auch bei den anderen alten Menschen gemessen wurden. Allgemeine, insbesondere kardiovaskuläre Risikofaktoren, wie sie bei multimorbiden Patienten zu erwarten sind, scheinen eher weniger für die Entwicklung einer altersbedingten Hörminderung verantwortlich zu sein.
Der letzte Teil der Untersuchung galt der Versorgung der schwerhörigen Seniorinnen und Senioren mit Hörgeräten. Es bestätigte sich der für die Gesamtgesellschaft bereits beschriebene Befund, dass nur ein geringer Teil der Menschen, die eigentlich zur Verbesserung ihrer Kommunikationsfähigkeit einer Hörgeräteversorgung bedürfen, diese auch tatsächlich bekommen bzw. Hörgeräte tragen. So waren nur 12.4% der Senioren mit Hörgeräten versorgt, während bei fast 60 % eine eindeutige Hörgeräte-Indikation nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e.V. (Leitlinie 017/065, 1998) bestand. Die Versorgung bei den geriatrischen Patienten war diesbezüglich etwas besser, hier bestand eine eindeutige Indikation für 77 %, immerhin 28 % waren adäquat versorgt.
Ausgehend von der klinischen Erfahrung, dass sich tatsächlich ältere Menschen häufig nur sehr schlecht apparativ versorgen lassen, ergibt sich aus der Studie als therapeutische Konsequenz:
Insbesondere für die Versorgung mit Hörgeräten und zur Erfüllung des Anspruchs, auch ältere Menschen in ihrer Kommunikationsfähigkeit rehabilitieren zu können, sollten wegen des hohen Anteils zentraler Hör-Verarbeitungsstörungen als (Teil-)Ursache für die Schwerhörigkeit auch und gerade in Bezug auf Hörgeräte-Entwicklung und Hörtherapie für diese Patienten neue Wege gesucht und beschritten werden. Vorrangig wäre dabei eine maximale Störgeräusch-Unterdrückung auch auf Kosten hoher Klangqualität.
Autor: Dr. Gerhard Hesse