Klangerlebnisse (To be Insider in 12 Minute n)

Film Festival Locarno 2004 – Prix Semaine de la Critique, Cannes
Nach ,Rivers And Tides› der neue Film von Thomas Riedelsheimer

Touch the Sound

a sound journey with evelyn glennie

Die weltbekannte, fast ertaubte Percussionspielerin Evelyn Glennie ist vielen Hörakustik-Lesern bereits bekannt. In früheren Ausgaben berichteten wir schon über ihre außergewöhnliche Fähigkeit, mit Tönen und Klängen, trotz ihres Hörproblems, umzugehen.
Der bekannte Filmemacher Thomas Riedelsheimer, einigen bekannt durch seinen Welterfolgs-Dokumentarfilm »RIVERS AND TIDES – Andy Goldsworthy working with time« aus dem Jahre 2001, für den er mehrere wichtige Preise eingeheimst hat, begleitete Glennie ein Jahr und machte aus seinen Aufnahmen einen Dokumentarfilm.
Mit von der Partie ist auch der Ausnahmekünstler Fred Frith. Das Multitalent unterstützt den Film mit genialen Musikimprovisationen und Jam-Sessions mit Glennie.
Der Film ist ausgezeichnet mit dem Grand Prix de la Semaine de la Critique (Grosser Preis der Kritikerwoche), Festival internazionale del film Locarno 2004 und der Goldenen Taube (2004) vom 47. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm (DOK).

Zum Inhalt

Schauplatz der ersten Filmsequenz ist die alte Fabrik »Pfeifer & Langen – The Factory« in Dormagen. Riedelsheimer zeigt Evelyn Glennie in dieser Fabrik, in der sie rhythmisch auf einen Gong schlägt. Riedelsheimer versteht das Wechselspiel von Bildern und Tönen und wechselt von Harmonie in Disharmonie. So zeigt er eine quietschende Bahn, schwenkt mit der Kamera hinüber zu einer Fußgängerampel, die ein Signal für Blinde abgibt, wenn es grün ist, die Bildfrequenz springt nun zu einem Krankenwagen, dessen Sirene ohrenbetäubenden Lärm von sich gibt, und weiter zu einer Baustelle mit einem Presslufthammer. Dieser Lärm, der allgegenwärtig ist, den man in jeder größeren Stadt vorfindet, ist so authentisch, dass man sofort interessiert zuhört.

Der Film ist nur in der Originalsprache zu sehen. Evelyn Glennie und Fred Frith sprechen in ihrer Muttersprache Englisch, der deutsche Untertitel wird eingeblendet. Riedelsheimer drehte in verschiedenen Städten und Ländern – so springt er von New York, Köln, Schottland und Japan hin und her. In New York sieht man Glennie in der Bahnhofshalle mit einem Schlagzeug trommeln, auf dem Dach eines Wolkenkratzers mit dem legendären Drummer Horacio Hernandez »jammen« sowie in einem Duett mit der Stepptänzerin Roxanne Butterfly auf der Straße. In Schottland besucht sie ihren Bruder und das Haus der Eltern, in Köln trifft sie zum ersten Mal auf Fred Frith, um gemeinsam eine CD aufzunehmen und in Japan tritt sie mit der japanischen Taiko-Gruppe Ondekoza zum Trommeln auf.

Schwerhörig?

Dem interessanten Aspekt, dass die faszinierende Hauptdarstellerin zu 80 % schwerhörig ist, ist nur ein kleiner Teil des Films gewidmet, denn erst nach circa 30 Minuten erfährt man zum ersten Mal, dass Glennie fast nichts mehr hört.
Sie erzählt, wie das im Alter von 8 Jahren festgestellt wurde. Sie reagierte langsamer als andere Mitschüler. Als sie 12 Jahre alt ist, erfährt sie von ihrem Arzt, dass sie von nun an immer weniger hören würde. Ebenso meinte dieser, sie könne nun nicht mehr musizieren und müsste auf eine Gehörlosenschule gehen. Sie weigerte sich, blieb in ihrer Schule und bekam Hörhilfen, die Lehrer erhielten Mikrofone. Sie beschreibt, wie sie merkte, dass sie, wenn sie die Hörgeräte herausnahm, die Klänge anders hörte. Mit dem Körper! Sie erfühlte die Klänge. Besonders das Schlagzeug hatte es ihr angetan. Sie erzählt, dass sie einen tiefen Ton vom Kinn abwärts spürt und einen etwas höheren vom Hals an aufwärts. Diese Erfahrungen gibt sie auch einer Schülerin in der Ellon Academy in Schottland weiter, die der Zuschauer am Anfang mit zwei Hörgeräten sieht, bis Glennie sie bittet, ihre Hörgeräte heraus zu nehmen, um die Klänge mit dem Körper zu »hören«.

Telefoninterviews

Interessant ist, wie Glennie Telefoninterviews meistert. Der Anrufer ist über einen Telefonlautsprecher zu hören. Er spricht seine Frage aus. Ein Bekannter sitzt Glennie gegenüber und wiederholt, lautlos die Lippen bewegend, dessen Frage an Glennie gerichtet. Sie liest von den Lippen ab und beantwortet nun die Fragen. Ihre Lautsprache ist wie bei hörenden Menschen entwickelt, sie kann also selbst antworten.

Beeindruckend ist, dass Glennie in ihrer Umgebung ständig irgendetwas zum Musizieren sucht. In Japan fragt sie bei einem Kellner nach einer leeren Bierflasche, einer Dose und einem Glas sowie Essstäbchen. Zwei Teller stehen schon vor ihr, auf dem einen sind noch Essensreste vorhanden, der andere ist leer. Sie arrangiert diese Gegenstände und beginnt zu trommeln. Im harmonischen Klangspiel erkennt der Zuschauer ihre Liebe zu Tönen. Auch einem Lampenschirm in einem Kaufhaus entlockt sie Töne. Über ihre Fertigkeit, aus allen Gegenständen, die sie findet, die schönsten Töne hervorzubringen, könnte man viele Beispiele aufzählen.

Eine persönliche Empfehlung

Der Dokumentarfilm ist ein harmonisches Zusammenspiel von Tönen und Bildern. Wer gerne Melodien hört, die rhythmisch und harmonisierend sind, der ist in diesem Film genau richtig. Auch der Lärm, der aufgezeigt wird, hat seine eigene Faszination. Der Zuschauer wird hinterher offener zuhören können, denn dieser Film regt das Gehör an und macht offensichtlich, wovor wir intuitiv gelernt haben wegzuhören. Dieser Film ist sehr empfehlenswert!

Aussagen von Glennie

Ihre Ansichten und Thesen in Bezug auf Hören, Töne und Klänge werden in dem Dokumentarfilm immer wieder mit eingebracht. Einige interessante Aussagen wollen wir im folgenden frei übersetzt wiedergeben.

Über Stille:

Stille ist wahrscheinlich der lauteste und schwerste Klang, den es gibt …

Evelyn Glennie

Über das Gegenteil von Klang:

Das Gegenteil von Klang … ist bestimmt nicht Stille. Gut, es muss einen Gegensatz geben … aber was es ist, das weiß ich nicht. Ich überlege, ob es etwas Statisches ist, das man mit sich nehmen kann. Die naheliegendste Sache, die ich mir vorstellen kann, ist der Tod.

Evelyn Glennie

Der 6. Sinn:

… Wissen Sie, es ist keine Katastrophe, wenn man das Augenlicht verliert oder nicht mehr hören kann. Alle übrigen Sinne können diesen einen, den man verloren hat, ersetzen. Das ist jener geheimnisvolle 6. Sinn: Man entwickelt einen zusätzlichen Sinn, von dem man vorher gar nicht wusste, dass es ihn überhaupt gibt.

Evelyn Glennie

Wie hören wir?

Wenn mich jemand fragt: ›Oh, wie hörst Du das?‹ – Dann sag ich einfach: Ich weiß es nicht, aber im Grunde höre ich es durch meinen Körper, indem ich mich selbst öffne. Wie hörst Du es denn?‹ – ›Oh, ich höre es durch meine Ohren…‹ Also wenn Du versuchst, diese Frage der so genannten hörenden Person zurückzustellen und diese nicht genau die Antwort auf diese Frage weiß, warum bringt man mich dann in diese Situation?

Evelyn Glennie

Evelyn Glennie

Evelyn Glennie kam in Aberdeen / Schottland zur Welt und wuchs auf einer Farm auf. Ihre Arbeiten und Auszeichnungen einzeln aufzulisten, erscheint fast unmöglich. Sie wurde in den 80er Jahren zur ersten Solokünstlerin für Perkussion in der klassischen Musik. Mittlerweile gibt sie mehr als 100 Konzerte im Jahr, hat mit fast allen Orchestern und Dirigenten von Weltrang zusammengearbeitet und über einhundert Werke renommierter zeitgenössischer Komponisten in Auftrag gegeben und/oder uraufgeführt.

Ihre erste CD, eine Einspielung von Béla Bartók’s Sonate für zwei Pianos und Perkussion, gewann 1988 auf Anhieb einen Grammy. Es folgten zahlreiche weitere Auszeichnungen, u.a. der Classical CD Award und 2002 der Grammy für das mit Béla Fleck produzierte Album »Perpetual Motion«. Bis heute hat Glennie 19 CD’s veröffentlicht, zuletzt »The Music of Christopher Rouse«. Auch außerhalb der Musik ist sie außerordentlich produktiv. Mit ihrer Autobiographie »Good Vibrations« gelang ihr ein Bestseller, in der BBC hat sie zwei eigene TV-Programme. Dazu kommen ihr Engagement im sozialen Bereich und ihre umfangreiche Lehrtätigkeit. Für ihr Engagement wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit zahlreichen Ehrendoktorwürden, zuletzt von der Universität Edinburgh, dem Mark O. Hatfield Leadership Award für ihre Verdienste in der Arbeit mit gehörlosen Kindern. Mehr Informationen finden Sie auf ihrer Homepage www.evelyn.co.uk

Fred Frith

Im Jahre 1949 wurde er im englischen Heathfield geboren. Mit fünf Jahren begann Fred Frith Violine zu spielen, wenig später kamen Klavier und Gitarre dazu. Während seines Studiums in Cambrige gründete er 1968 mit dem Saxophonisten Tim Hodgkinson die wegweisende Independent-Band Henry Cow. Nach deren Auflösung ging Frith 1979 nach New York. Er arbeitete unter anderem zusammen mit Amy Denio, Brian Eno, Half Japanese, Material, Robert Wyatt, Jon Zorn und Yo Yo Ma. Er schuf zahlreiche Kompositionen für Film und Bühne. Frith zählt heute zu den führenden Persönlichkeiten der improvisierten Musik. 1990 drehten Nicolas Humbert und Werner Penzel den vielfach preisgekrönten Dokumentarfilm »Step Across the Border« über Frith und seine Musik. Die Zusammenarbeit mit Thomas Riedelsheimer begann mit »Rivers And Tides«, für den er die Filmmusik schrieb. Weitere Informationen finden Sie unter www.fredfrith.com

Thomas Riedelsheimer (Regie, Kamera, Schnitt)

Geboren wurde er im Jahre 1963. Er schloss das Studium an der Hochschule für Fernsehen und Film München (HFF), Abteilung Dokumentarfilm, ab. Seit 1986 ist Thomas Riedelsheimer als Filmemacher, Kameramann und Cutter im In- und Ausland tätig. Zu seinen Regiearbeiten zählen unter anderem »Sponsae Christi – Die Bräute Christi« (1992, Adolf-Grimme-Preis in Gold für Regie, Kamera und Schnitt), »Metamorphosen« (1997, nominiert zum Deutschen Kamerapreis) und »Die gesteigerte Fahrt« (1998, nominiert zum Deutschen Kamerapreis).
Thomas Riedelsheimers »Rivers And Treal«, mit dem Preis der Deutschen Filmkritik, dem Deutschen Kamerapreis und zwei Deutschen Filmpreisen (Bester Dokumentarfilm, Beste Kamera) ausgezeichnet. 2001 gründete Riedelsheimer gemeinsam mit Stefan Tolz und Thomas Wartmann die Produktionsfirma Filmquadrat. Ihre Internetadresse lautet www.filmquadrat.de
Mit Thomas Riedelsheimer sprach unsere Mitarbeiterin Anja Werner anlässlich der Premieren (bereits in u.a. Berlin, Düsseldorf, Dresden und Frankfurt am Main erfolgt) seines Films über und mit Evelyn Glennie. Mehr darüber in unserer nächsten Ausgabe.

Autorin: Anja Werner

 

Autor: Thomas Keck

Thomas Keck ist durch seinen Beruf als Hörsystemakustiker bestens mit der Präzision und Sorgfalt vertraut, die sowohl für die technische Arbeit als auch für den direkten Kundenkontakt erforderlich sind. Sein Werdegang zeugt von einer kontinuierlichen Entwicklung und einem hohen Maß an Fachwissen, unterstrichen durch den Meisterbrief und die Selbstständigkeit. Er verfolgt seine Interessen mit Leidenschaft und widmet sich einer Vielzahl von Aktivitäten, von Musik über die Beschäftigung mit Oldtimern bis hin zur Werteschätzung der Bibel. Thomas bewundert Menschen, die in ihrem Feld Spitzenleistungen erbringen, wie diverse Musiker und Schauspieler. Dies deutet auf eine hohe Wertschätzung für Expertise und handwerkliches Können hin.

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