Griff in die Geschichte vor über 90 Jahren
Nobelpreis im russischen Kriegsgefangenen-Lager …
… für den Wiener Otologen Robert Bárány:
die Lärmtrommel,
der Drehstuhl
und anderes
Die Szene ist beinahe unwirklich und gespenstisch: Man schreibt den 2. November 1915 im herbstlich kalten Turkmenistan, nicht weit von der afghanischen Grenze. Der österreichische Kriegsgefangene, der Arzt Professor Dr. med. Robert Bárány, 39 Jahre alt und gehbehindert, wird gerade zurück ins Lager begleitet. Da erfährt er, dass er soeben den Nobelpreis für Medizin und Physiologie erhalten hat. In Europa tobt der Erste Weltkrieg, aber in Merw (heute Mary), in der Wüste Karakum, östlich des Kaspischen Meeres, herrscht Ruhe. Bárány, der Otologe, wird später so zitiert:
Doch nun zu meiner größten Überraschung, die ich erlebt habe. Ich hatte in einem Zivilspital in der Stadt einen Ohrenkranken operiert. Auf dem Heimweg (ins Lager) händigte mir ein russischer Soldat ein Telegramm aus. Ein Kamerad, der russisch verstand, rief: »Ja ist denn das möglich? Du hast ja den Nobelpreis bekommen!«
Dr. med. R. Bárány
Trotz Kriegsgefangenschaft war dies ein Höhepunkt im Leben des österreichischen Wissenschaftlers und Arztes ungarischer Abstammung, Robert Bárány, der zu den Pionieren des noch jungen Spezialfaches der Hals-Nasen- Ohrenheilkunde zählt. Den Nobelpreis 1914 erhielt er für seine Arbeiten über »Physiologie und Pathologie des Vestibularapparates«. Wegen der chaotischen Kriegszeiten wurde die Preisverleihung allerdings erst am 29. Oktober 1915 offiziell verkündet.
1916 kam Bárány durch Intervention der schwedischen Regierung und des Roten Kreuzes aus dem Kriegsgefangenen-Lager Merw frei und kehrte nach Wien zurück.
In der österreichischen Metropole hatte Bárány Medizin studiert, ging anschließend nach Frankfurt am Main, dann nach Freiburg im Breisgau und kam schließlich zurück nach Wien als Assistenzarzt an die Otologische Klinik des renommierten Ohrenarztes Univ.-Prof. Dr. med. Adam Politzer. Hier arbeitete und forschte Bárány, 276 Veröffentlichungen zwischen 1908 und 1936 (seinem Todesjahr) zählen zu seiner Hinterlassenschaft. Viele seiner Arbeiten befassen sich mit der Schwerhörigkeit oder auch dem Tinnitus. Hier nur die Titel einiger seiner bedeutendsten Veröffentlichungen:
- »Lärmapparat zum Nachweis der einseitigen Taubheit« (1908)
- »Fall von plötzlicher Schwerhörigkeit und Ohrensausen – Durchführung einer Lumbalpunktion« (1910)
- »Eine neue Gehörprüfungsmethode« (1910)
- »Versuche zur exakten Demonstration und Erklärung der Wirkung des künstlichen Trommelfells« (1910)
- »Worttabellen zur Hörprüfung« (1910)
- »Versuche zur Erklärung der Seekrankheit« (1910)
- »Über einen Fall von vollständiger Wiederherstellung des Gehörs nach kompletter, nahezu ein Jahr dauernder Taubheit« (1913)
- Nobel-Vortrag, gehalten in Stockholm: »Some new methods for functional Testing of the Vestibular Aparatus and the Cerebellum« (-1.09.1916)
- »Über Störungen des Tonunterscheidungsvermögens und Verwandlung von Tönen in Geräusche nebst Bemerkungen zur Theorie des Gehörs« (1928)
- »Ein Fall von Falschhören und seine Deutung« (1928)
- »Kortikaler Mechanismus der Sprache« (1930)
- »Zur Ätiologie, Therapie und Theorie der objektiv-subjektiven Ohrgeräusche« (1931)
- »Die Beeinflussung des Ohrensausens durch intravenös injizierte Lokalanästhetica« (1936)
»Robert Bárány kann als Begründer der Oto-Neurologie gelten«, so Gunter Joas in seiner Biografie über den Wiener Arzt (Marburger Schriften zur Medizingeschichte: »Robert Bárány – Leben und Werk« erschienen im Peter Lang Verlag, Frankfurt/M.). Und: »Seine herausragende Bedeutung für diese Spezialdisziplin im Grenzbereich zwischen Otologie und Neurologie verdankt er in erster Linie der Entdeckung der kalorischen Reaktion.«
Tatsächlich konnte man nun zum ersten Mal durch die kalorische Spülung der äußeren Gehörgänge die beiden Gleichgewichtsorgane (horizontale Bogengänge) voneinander getrennt untersuchen. Joas stellt auch fest, dass Bárány neben seinen physiologischen Studien neue Operationstechniken entwickelte und bedeutende Beiträge auf praktischem Gebiet leistete, wie z.B. die Entwicklung der Lärmtrommel und der Konstruktion eines neuen Drehstuhls.
Bárány, Sohn eines Gutsverwalters, hatte fünf Geschwister und selbst nach seiner Heirat mit Ida Felicitas Berger zwei Söhne und eine Tochter. 1913 wurde er zum Militär als »landsturmpflichtiger Zivilarzt« einberufen und in die Festung Przemyśl nach Polen geschickt. Er geriet in Gefangenschaft, als Przemysl von den Russen erobert wurde. Nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft kehrte er zwar nach Wien zurück, wurde dort jedoch nicht glücklich. Nach Auseinandersetzungen mit der Universität Wien, die ihm den Professorentitel verweigerte, nahm er den Ruf an das Uppsala University Hospital / Schweden an, wo er auch die Professur erlangte. Dort starb er 1936 nach einem Schlaganfall. 1960 wurde die Bárány-Gesellschaft gegründet, heute zu erreichen in Uppsala (www.thebaranysociety.org).
Autor: Thomas Glaue