Selbstbewusst und engagiert
Auf ihren verschlungenen Wegen durch die U.S.A. ist die A.A.A. Rotations-Karawane diesmal im Zentrum der politischen Macht angekommen. Washington D.C. (das D.C. steht für District of Columbia – es gibt auch noch einen Bundesstaat Washington, aber der liegt an der Westküste) macht auf den Besucher (von denen im Jahr 20’000’000 hierher kommen) prima vista einen sehr großzügigen Eindruck. Hier wurde ein stadtplanerisches Gesamtkonzept konsequent in die Tat umgesetzt – Washington ist die 1. geplante Hauptstadt der Welt. Es leben hier, wer hätte das gedacht, etwa gleichviel Einwohner wie in Stuttgart, ansonsten weisen beide Städte keine weiteren Ähnlichkeiten auf.
3 Takte über Washington
Von den rund 580’000 Einwohnern sind 70% schwarz, was dem Besucher aber kaum auffällt, weil er sich vorwiegend in den von Weißen dominierten Vierteln aufhält. Das professionelle Gesicht Washingtons ist konservativ, was daran liegen mag, dass hier so viele Anwälte (50’000!) zugange sind.
In den zahllosen Bars trifft man am Abend jede Menge junge, fröhliche Regierungsangestellte, die eine optimistische Atmosphäre verbreiten, wie überhaupt in den U.S.A. das von zuhause gewohnte Jammerklima völlig zu fehlen scheint.
Einst war Washington bei vielen Politikern nicht besonders beliebt. John F. Kennedy soll bemerkt haben, die Stadt verbinde die Effizienz der Südstaaten mit dem Charme der Nordstaaten: nichts würde funktionieren, und die Bewohner seien obendrein noch unfreundlich. Doch das hat sich inzwischen wohl zum Besseren gewendet, denn die lange verspottete Kapitale ist mittlerweile ein international anerkanntes Kulturzentrum mit zahllosen Events und Festivals, dazu einer hervorragenden Gastronomie.
Nirgendwo kann man Kultur so preiswert bis gratis bekommen wie in der Kapitale am Potomac River – es gibt mehr als 60 Sehenswürdigkeiten und Museen, die keinen Eintritt kosten. Dass dem so ist, verdanken die Einwohner und Besucher der Stiftung Smithsonian Institution. James Lewis Smithson war … Engländer!
Und er ist nie in Amerika gewesen! Aber bei seinem Tod im Jahr 1829 hat er sein beachtliches Vermögen ausgerechnet der amerikanischen Hauptstadt überlassen. Man vermutet, dass er damit gegen die verstaubte englische Klassengesellschaft protestieren wollte. 75 Jahre nach seinem Tod ist der Herr doch noch in die U.S.A. gekommen, denn seine Gebeine ruhen heute im Smithsonian Institution Building (The Castle) in Washington.
Machtvolle Demonstration
So war es nur eine Frage der Zeit, bis die American Academy of Audiology (A.A.A.) aufihrer Convention-Tour – West – Mitte – Ost – in der U.S.- Hauptstadt tagen würde. Und diese Tagung geriet zu einer machtvollen Demonstration einer Organisation, die vor Selbstbewusstsein aus allen Nähten platzt.
Man will in diesem Jahr auf 10’000 Mitglieder kommen, verriet uns die stets auskunftsbereite Pressesprecherin der A.A.A., Sydney Davis. Und man ist auf dem besten Wege hierzu. Über 75 % der Mitglieder sind weiblich, über 50 % haben einen Masters Degree, und während ca. eine Hälfte zwischen 21 und 40 Jahren alt ist, bildet die Gruppe zwischen 40 und 60 Jahren die andere Hälfte. Aber man hat den Eindruck, dass vornehmlich die Jungen zum Kongress kommen (Hört, hört!).
Laut Information des A.A.A.-Pressebüros wurden in diesem Jahr ca. 6’500 Teilnehmer gezählt.
Dass sich die U.S.-Audiologen aktiv in die amerikanische Gesundheitspolitik einmischen, weiß man nicht erst seit heute. Schon im vergangenen Jahr in Salt Lake City war der »Direct Access« (so eine Art Initiativrecht) ein wichtiges Thema. Diesmal nun hatte man den Senatoren und Abgeordneten signalisiert, man möge sich am Mittwoch bereithalten, weil die Audiologen sie zu sprechen wünschten. Und so zogen die Kongressteilnehmer in Richtung Capitol Hill, um dort ihr Anliegen bei denjenigen, welche die Gesetze machen, vorzutragen. Man stelle sich etwas ähnliches in Deutschland vor!
Dass die Infrastruktur in Washington für einen großen Kongress hervorragend ist, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Ein großes freies Feld mit ein paar Trümmerresten erinnert an das alte Kongresszentrum, welches abgerissen wurde, weil man ein neues und schöneres haben wollte. Dies steht seit kurzem unweit der alten Tagungsstätte, stellt aber nicht gerade ein architektonisches Glanzlicht dar. Zweckmäßig jedoch ist es allemal und wirkt mit seinen Raumgrößen gelegentlich ein wenig beklemmend. Aber alles vor die Türe. funktioniert. Zum Rauchen geht man vor die Türe.
Von schick bis angestaubt
Im Umkreis des Walter E. Washington Convention Center’s, meist nur wenige Gehminuten entfernt, liegen die Hotels mit ihren riesigen Gästekapazitäten. Nicht alle sind so schick und modern wie das Hyatt, in dem ich untergekommen war. Peter David Schaade hatte mit dem Marriott eine leicht angestaubte Herberge erwischt. Wem der Weg zum Kongresszentrum zu weit oder wegen des regnerischen Wetters zu feucht war, konnte den kostenfreien Shuttle benutzen, den – wie in all den Jahren zuvor – der Sponsor Widex zur Verfügung stellte.
Die Eröffnungsveranstaltung stellte für einen, der schon zahlreiche deutsche Ereignisse dieser Art mitgemacht hat, ein Schockerlebnis dar. Als ich gegen 10 Uhr in Richtung Festsaal strebte, waren außer mir nur wenige Leute unterwegs, und ich hatte schon das beklemmende und eigenartig vertraute Gefühl, in eine halbleere Halle zu geraten. Aber der Mensch kann sich täuschen. Denn als ich in den riesigen Raum kam, waren dort bereits über 2’500 Teilnehmer versammelt. Kein Stuhl mehr frei.
Disziplin ab der Eröffnung
Punkt zehn Uhr ging’s los. Alle erheben sich, die Fahnen der verschiedenen Waffengattungen werden hereingetragen, jemand singt die Nationalhymne, die Fahnen marschieren wieder ab. Ich möchte hier beileibe keine Handlungsanweisung für deutsche Kongresseröffnungen ableiten, aber der Unterschied fällt schon schmerzlich auf, vor allem, was die Disziplin des Publikums angeht. Die ganze Veranstaltung dauerte genau 2 Stunden, währenddessen haben etwa zwei Dutzend Leute den Saal vorzeitig verlassen.
Nachdem die diversen Funktionäre Rechenschaft abgelegt hatten, diverse Ehrungen und Medaillen-Überreichungen bei zum Teil stehenden Ovationen zelebriert worden waren, alles kurz und zackig, wurde die Kongressstadt des kommenden Jahres (Minneapolis) in einer flotten Power Point – Präsentation vorgestellt. Auf großen Bildleinwänden konnte jeder in der Halle das Geschehen gut verfolgen. Die Akustik war exzellent. Und die Redner sprachen offenbar alle frei – der Teleprompter macht’s möglich.
Und dann kam der Senator Tom Harkin, ein bekannter Gesundheitspolitiker, der sich seit Jahren für Verbesserungen im amerikanischen Gesundheitswesen einsetzt. Er sagte den Anwesenden genau das, was sie hören wollten, und er sagte es glaubhaft. Die Audiologen wollen erreichen, dass Schwerhörige künftig nicht zuerst zum Hals-Nasen-Ohrenarzt gehen müssen, wenn sie eine Hörgeräteversorgung mit Kassenbeteiligung wünschen, sondern dass sie gleich zum Audiologen gehen dürfen (Direct Access). Die Angelegenheit ist weit gediehen und bereits im Gesetzgebungsverfahren. Neben Tom Harkin sind eine Reihe weiteren Senatoren, Demokraten wie Republikaner, auf Seiten der Audiologen und unterstützen deren Vorstellungen.
Als sogenannte Keynote Speakers hatten sich die Veranstalter ein seltsames Paar ausgeguckt: James Carville und Mary Matalin.
Die beiden sind bekannte Persönlichkeiten in den U.S.A., man kennt sie als Buchautoren, als Fernsehkommentatoren, als Journalisten. Beide beraten führende Politiker bis hoch zum Präsidenten. Sie ist strikt republikanisch, er absolut demokratisch. Und beide sind miteinander verheiratet. Ihre Darbietung, ein politischer Disput, war für einen Gast aus Europa ein bisschen zu ausschweifend. Aber den Leuten hat’s offenbar gefallen, denn fast alle blieben sitzen.
Die ganze Eröffnungszeremonie war eine politisch geprägte Veranstaltung. Immer wieder wurden die Teilnehmer aufgerufen, auf ihre Abgeordneten Einfluss zu nehmen. Geld sollen sie sammeln, um die ihnen genehmen Politiker zu unterstützen: »Ein Scheck auf dem Konto Ihres Abgeordneten ist eine hervorragende Investition.« In Amerika gehen die Uhren eben anders.
European global players dominate
Die Industrieausstellung schien mir im Vergleich zum Vorjahr ein bisschen kleiner, war aber trotzdem von beeindruckender Größe. Dominierend wieder die europäischen Global Player, fast überall gibt’s was zu gewinnen, iPod’s sind in diesem Jahr der große Renner. Aber nirgends wird Kaffee ausgeschenkt – da hat sich wohl (siehe Bericht aus dem Vorjahr) der Hallengastronom durchgesetzt.
Am Stand von Starkey trifft man, wie jedes Jahr, einen strahlenden Bill Austin, der dort schon fast wie eine Ikone wirkt. Sein neuester Hit nennt sich »da Vinci« und soll solchen Patienten helfen, die eigentlich schon für ein CI in Frage kommen. Auch das bereits in Deutschland vorgestellte »Aspect« ist einer der Hoffnungsträger von Starkey.
Von Oticon erwartet man inzwischen fast jede Woche eine Neuheit, und natürlich ist man auch nach Washington nicht mit leeren Händen gefahren. Für’s Syncro gibt es bereits ein update, eine Power-Variante mit DataLogging-Funktion. Dazu kommt noch ein »automatischer Anpassungsmanager«, der hoffentlich den Akustiker nicht völlig arbeitslos macht… Und da sind noch »Tego« und »Tego Pro« – sehr viel Leistung im Mittelpreissegment. Torben Lindø schien sichtlich vergnügt und zufrieden.
Interton, wo Hellmuth Türk wieder stärker in der Pflicht ist, führt das bereits in Deutschland vorgestellte Produkt »Bionic« nunmehr in den U.S.A. ein. Nach einem, wie Herr Hörning sagte, überraschenden Erfolg in Deutschland blickt man bei Interton zuversichtlich in die Zukunft.
Auch am Stand von Hansaton, wo die Herren Fischer jr. und Weiß Stall- wache halten, freut man sich über eine zufriedenstellende Resonanz. Da Amerika vorwiegend ein ImOhr-Markt ist, legt man hier das Gewicht auf ein semi-modulares Produkt namens »Fusion«.
Bei Bernafon war ein schickes BMW-Cabrio zu sehen, anbieten will man aber auch weiterhin Hörgeräte. Swiss Ear nennt sich ein neues Produkt für total offene Versorgung mit kanalfreier Signalverarbeitung. Die Werbeaussage zu dieser Novität lautet: »Very Heidi«, worunter sich jeder vorstellen darf, was ihm gerade in den Sinn kommt, z.B. einen Gruß vom Geisenpeter. Dann gibt es das schon bekannte »Symbio« und dazu noch ein neues digitales Gerät in der Einstiegsklasse, welches »Win« heißt.
Bei Siemens war – natürlich – »acuris« der Mittelpunkt des gut besuchten Standes, während bei ReSound ein Produkt names »Metrix™« die Attraktion darstellte. »Wir haben den Code geknackt« behaupten die Münsteraner resp. Kopenhagener. Bei Phonak hingegen ist es natürlich die weiße Eule, um die sich seit Wochen alles dreht. Am Widex-Stand, wo wie bei nahezu allen anderen Ausstellern verbissen gedaddelt wurde, war – neben dem neuen Produkt »élan« – der Fokus wieder auf Senso Diva gerichtet. Die Ruhe vor dem Sturm?
Einen relativ großen Ausstellungsstand mit einer gewaltigen Freitreppe, die einem Hollywood-Ausstattungsfilm entlehnt zu sein schien, leistete sich Newcomer Sonic Innovations. Da dessen Produkte in Deutschland – und nur in Deutschland – nicht über den Fachakustiker, sondern lediglich im verkürzten Versorgungsweg angeboten werden, was man auch beibehalten möchte, sind sie für unsere Leserschaft nicht von Interesse.
Meetingpoint A.A.A.
Von Frankfurt aus kann man täglich mehrere Male direkt nach Washington fliegen, was aber offenbar nur für wenige deutsche Kongressbesucher einen Anreiz darzustellen vermochte. Das deutsche Kontingent war heuer fast so dünn wie voriges Jahr in Salt Lake City, wenn man von ein paar »geladenen« Gästen (»I buy where I fly«) einmal absieht.
Aber wenigstens eine V.I.P. aus Good Old Germany war zu begrüßen: Prof. Ludwig Moser, der seit kurzem emeritierte, schaute in Washington vorbei, ehe er sich auf den Weg in die Südstaaten machte, um dort im Sattel einer Harley nunmehr das freie Leben zu genießen.
Den Veteranen Winfried Katz aus Kreuztal traf ich im Foyer, wo er sich bitter darüber beklagte, dass auf der hiesigen Ausstellung keine Kinder zugelassen sind. Der deutsche Kongress sei da viel kinderfreundlicher. Herr Katz hat inzwischen seinen Aktionsradius ausgeweitet und bearbeitet nun den Markt in der Türkei.
Einer der treuesten Kongress-Besucher aus Germany, Martin Blecker, musste vorzeitig wieder abreisen, weil seine Pro Akustik sinnigerweise für das Wochenende ein großes Meeting anberaumt hatte. Und als eine kleine Akustiker-Delegation, die sich von Siemens die Sehenswürdigkeiten der Gegend hatte zeigen lassen, am Samstag schließlich auf der Ausstellung erschien, waren die deutschen Manager Peter Schaade und Stefan Lengning bereits wieder auf dem Heimflug. Perfektes Timing… Der Samstag erwies sich übrigens, nach einem sehr guten Donnerstag und einem mäßigen Freitag, als ziemlich schwacher Ausstellungstag.
Notizen vom Kongress-Geschehen …
Nach wie vor ist das A.A.A.-Vortragsprogramm schier unüberschaubar. Etwa 250 »Presenter« tummeln sich auf der Liste, und die Themen enthalten alles, was auch nur im entferntesten für einen Audiologen von Interesse ist. So kann man u.a. auch erfahren, wie man ein Geschäft oder eine Praxis einrichtet, oder wie man zu seinem Geld kommt, wenn sogenannte third party’s (Krankenkassen) im Spiel sind.
Was bei unserem letzten Kongress in Frankfurt am Samstag als Industrie-Workshops stattfand (und nicht besonders erfolgreich war) ist in den U.S.A. ins Vortragsprogramm integriert. Es gibt anscheinend keine Berührungsängste gegenüber der Industrie, die mit zahlreichen Referenten das Programm auffüllt.
Eine zusätzliche Aktivität der A.A.A. war auch in diesem Jahr ein Seminar für die Einwohner der Kongressstadt. Zu den Themen Gleichgewichtsstörungen, Zusatzgeräte zum Hören im Alltag, Lärmvermeidung u.a. wurde gegenüber vom Kongressgebäude im Renaissance Hotel ein Workshop für jedermann abgehalten, der allerdings – wohl wegen des sehr unfreundlichen Wetters – ziemlich schwach besucht war. Um so glänzender war die Besetzung des Podiums, wo hochrangige Militärs aus dem nahen Walter Reed National Military Medical Center zu den Referenten zählten. Auch direkt auf dem Kongress waren die Mediziner der Army präsent: »Lektionen vom Schlachtfeld. Vom Krieg in die Sprechstunde.« Hier ging es um Armee-Veteranen, die aus dem Mittleren Osten mit Schädigungen des Gehörs zurückgekehrt sind.
… und vom Rahmenprogramm
Das übliche Party-Gewimmel am Freitagabend gehört natürlich untrennbar zur Convention, und diesmal war auch Widex als Großveranstalter wieder mit von der Partie. Man ist ernsthaft bemüht, ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen: »Die lauteste Party aller Zeiten!« Da muss man gar nicht erst in den Irak-Krieg ziehen.
Einer der Gäste, mit dem ich ins Gespräch kam, war der Meinung, ich sei aus Brooklyn. Er glaubte dies aus meinem Dialekt schließen zu können. Seitdem grüble ich, ob ich mich darüber freuen oder deswegen beleidigt sein soll.
Des Schreibers Fazit
Als Fazit der A.A.A.-Convention bleibt festzuhalten: Eine hochpolitische Veranstaltung, die neben zahlreichen fachlichen Themen ganz klar die Stoßrichtung vorgibt: Emanzipation vom HNO-Arzt. Dabei zieht die gesamte Organisation augenscheinlich an einem Strang. Man ist gut aufgestellt, hat seine Verbündeten in der hohen Politik und besitzt ein enormes Selbstvertrauen, welches fast greifbar in der Luft liegt. Fachlich gibt’s für uns in Übersee kaum was zu lernen, aber ansonsten …
Autor: Gerhard Hillig